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Jetzt jedoch, nachdem die Tagesgeräusche verstummt waren, breitete sich über die schlafende Stadt etwas wie ein Mysterium. Cathérine schien es, als befinde sie sich im Inneren eines festen und kostbaren Reliquienschreins, einer Art unverletzlichen Zufluchtsorts, und fragte sich, ob dies nicht auf den Schatten Johannes zurückzuführen sei. Im leisen Plätschern des Flusses, in dem entfernten, fast unhörbaren Gesang der rauschenden Bäume, selbst im Ruch der fruchtbaren Erde, der zu ihr drang, vermischt mit einem vagen Duft von Wasser und Jasmin, glaubte Cathérine noch die helle Stimme des großen Mädchens zu hören, das von so weit hergekommen war und durch ihr flüchtiges Auftauchen ihr Leben wie mit einem unauslöschlichen Siegel gezeichnet hatte … Jehanne! Als sei sie immer noch hier, in dieser befestigten Stadt, die sie nie vergessen würde! Diesen Namen, der im ganzen Königreich aus Furcht vor den Spionen La Trémoilles nur flüsternd ausgesprochen wurde, wagte Chinon auf seinen Straßen laut zu verkünden und bewahrte die Erinnerung an seine Trägerin in jedem seiner Steine … Wenn die Nacht sich herabsenkte, gewann das weiße Phantom wieder Leben und spukte in jedem Haus.

Mechanisch hob Cathérine die Augen zur Milchstraße am Himmel, als suche sie dort den Widerschein einer silbrigen Rüstung.

»Jehanne!« murmelte sie ganz leise. »Helft mir! Weil ich Euch dem Tode habe entreißen wollen, fand ich ein Glück, das ich für unmöglich hielt! Euch verdanke ich's … Gebt, daß die vielen Schmerzen nicht umsonst erlitten wurden! Gebt mir die Liebe zurück, das verlorene Glück …«

Etwas Frisches, Duftendes, das sie am Hals traf, unterbrach ihre Träumerei und führte sie wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Unwillkürlich griff sie zu, erwischte den Rosenstrauß in dem Moment, in dem er wieder hinauszufallen drohte, und hob ihn an die Nase. Er duftete herrlich … Sich ins Dunkel der Straße hinausbeugend, suchte die junge Frau festzustellen, woher der Blumengruß gekommen sein mochte, und entdeckte unter dem Vordach des gegenüberliegenden Hauses eine hohe, dunkle Gestalt, die sich langsam aus ihrem Versteck löste.

Aber schon bevor sie voll sichtbar geworden war, wußte Cathérine, wer es war. Langsam schritt Pierre de Brézé in die Mitte der Gasse und blieb dort unbeweglich einige Augenblicke stehen, zu dem Fenster aufblickend, das die graziöse Silhouette der jungen Frau einrahmte. Sie konnte seine Gesichtszüge nicht unterscheiden, aber sie hörte, daß er ihren Namen murmelte.

»Cathérine …!«

Sie antwortete nicht, von plötzlicher Erregung erstickt. Ihr Herz hatte wie rasend zu schlagen begonnen. Sie fühlte, daß sie wie eine Jungfrau errötete, weil Pierre in die vier Silben ihres Namens mehr Liebe gelegt hatte als in ein Gedicht. Sie verspürte das heftige Verlangen, ihm die Hände entgegenzustrecken, um ihn näher heranzuziehen, zu ihr … In diesem Augenblick tauchte der Mond über einem Dachgiebel auf, flimmerte auf den Schiefern, versilberte sie, warf seinen Schein in die Straße und umhüllte mit ihm die reglose Gestalt des jungen Mannes, bevor er das Fenster erhellte und ins Zimmer glitt. Instinktiv hob Cathérine den Arm gegen das allzu helle Licht und trat einen Schritt zurück. Aber sie hatte noch Zeit, zu sehen, wie er ihr eine Kußhand zuwarf …

Es war jetzt zu hell, und es war unvorsichtig, sich noch einmal zu zeigen, aber die Versuchung war zu stark. Es verlangte sie danach, sein zu ihr emporgehobenes, von Leidenschaft gezeichnetes Gesicht noch einmal zu sehen … Sie neigte sich vor und konnte ein bedauerndes Lächeln nicht unterdrücken: Die Straße war leer. Pierre war verschwunden … Langsam schloß Cathérine den hölzernen Laden und das Fenster, zündete die Kerze an, nahm den für einen Moment auf dem Tisch abgelegten Strauß wieder auf und roch mit geschlossenen Augen daran, ließ sich vom Duft der Rosen berauschen. Die heiße Stimme, die eben noch aus dem Dunkel zu ihr gesprochen hatte, klang ihr im Ohr …

Das Gesicht in den Blumen vergraben, lauschte sie ihr nach, als sie plötzlich die spöttische Stimme Saras vernahm. Die Zigeunerin hatte schon geschlafen und mußte durch das Licht geweckt worden sein.

»Erstaunlich, diese Herberge! Ich hatte gar nicht bemerkt, daß Rosen in ihren Mauern sprießen!«

Jäh aus ihrem Traum gerissen, warf Cathérine ihr einen wütenden Blick zu, doch nach einem Augenblick mußte sie lachen. Kerzengerade im Bett sitzend, hatte Sara mit ihren dicken, straff auf die Schultern fallenden angegrauten Zöpfen eine ungeheuer komische Würde, die von dem neckischen Funken in ihren Augen Lügen gestraft wurde.

»Sie sind schön, nicht wahr?« murmelte die junge Frau.

»Sehr schön! Ich wette, sie kommen direkt vom Schloß, und ein gewisser Seigneur hat sie gebracht.«

»Du brauchst gar nicht zu wetten. Es stimmt … Er hat sie mir heraufgeworfen.«

Das leise Lächeln schwand von Saras Lippen. Sie schüttelte mit einer Andeutung von Traurigkeit den Kopf.

»Du bist schon soweit, ihn Er zu nennen?«

Cathérine wurde puterrot und wandte sich ab, um ihre Verwirrung zu verbergen, während sie sich zu entkleiden begann. Sie antwortete nicht, aber offenbar wollte Sara eine Antwort haben.

»Sag mir ehrlich, Cathérine. Was empfindest du eigentlich für diesen schönen blonden Ritter?«

»Was soll ich darauf antworten?« entgegnete die junge Frau gereizt. »Er ist jung, er ist schön, wie du ganz richtig bemerktest, er hat mich gerettet, und er liebt mich … Ich finde ihn charmant, das ist alles.«

»Das ist alles …«, äffte Sara nach. »Das ist schon viel. Hör zu, Cathérine: Ich weiß besser als irgend jemand, was du gelitten hast und wie du noch immer unter deiner Einsamkeit leidest, aber …«

Sara zögerte, senkte die Nase, sichtlich verärgert über das, was sie sagen wollte. Cathérine stieg aus ihrem Kleid, ließ es um ihre Füße zu Boden gleiten und bückte sich, um es aufzulesen.

»Aber?« fragte sie.

»Paß auf, daß du nicht wieder dein Herz verlierst. Ich gebe zu, daß dieser schöne Seigneur alles besitzt, was eine Frau verführen kann. Ich bin auch sicher, daß seine Liebe ehrlich ist und daß er deinem Leben eine große Süße geben würde. Ich weiß, daß er dir liebenswert erscheint. Nur – ich kenne dich, ich weiß, daß du nicht lange mit einer anderen Liebe glücklich wärst, weil der Mann, dessen Namen du trägst, dich zu tief gezeichnet hat, als daß du ihn vergessen könntest.«

»Wer spricht von vergessen?« murmelte Cathérine mit beunruhigter Stimme. »Wie könnte ich Arnaud vergessen, da ich doch nur für ihn gelebt habe?«

»Dadurch, daß du dich von einem anderen überreden ließest, in Zukunft für ihn zu leben. Ich wiederhole: Ich kenne dich. Wenn du dich gehenließest, würde eines Tages, früher oder später, die alte Liebe wieder ihre Rechte fordern, das Bild Arnauds würde den anderen verdrängen, und du würdest dich noch einsamer fühlen, noch verzweifelter und, um das Unglück vollzumachen, voller Gewissensbisse, wortbrüchig geworden zu sein … und du würdest dich deiner schämen.«

Sehr aufrecht in ihrem langen weißen Hemd, die Augen ins Weite gerichtet, schien Cathérine abwesend. Aber sie murmelte mit tiefem Schmerz:

»Dennoch warst du es, die mir nach der Nacht mit Fero riet, mich ohne Gewissensbisse der Lust hinzugeben. Brachtest du mir damals mehr Nachsicht entgegen, weil es sich um einen Mann deiner Rasse handelte?«

Sara erblaßte. Drückendes Schweigen breitete sich zwischen den beiden Frauen aus. Dann stand die Ältere langsam auf, trat zu der anderen.

»Nein, nicht weil es sich um einen der Meinen handelte. Sondern weil ich wohl wußte, daß Fero keine Chance hatte, dein Herz zu rühren. Und die Lust ist gut, Cathérine, wenn man jung und gesund ist. Sie befreit den Geist, entspannt den Körper, läßt das Blut schneller und heißer durch den Körper rinnen, während die Liebe knechtet und manchmal – zerstört … Wenn ich wüßte, daß dein Herz bei diesem Ritter nichts riskierte, würde ich dich ihm geradezu in die Arme werfen. Einige Nächte der Wollust würden dir guttun, aber du gehörst nicht zu denen, die sich ohne Zärtlichkeit hingeben. Und das würde … dem Einsiedler von Calves, deinem Gatten, großen Schmerz bereiten! Er braucht dich, muß wissen, daß du ihm beistehst, sein Martyrium zu ertragen. Jeder hält dich für eine Witwe, und deine schwarzen Schleier täuschen dich selbst. Für alle, selbst für das Gesetz, für die Kirche, bist du Witwe, da er beim Eintritt ins Siechenhaus aus der Reihe der Lebenden gestrichen worden ist. Aber er lebt, Cathérine, er lebt noch, und in deinem Herzen lebt er noch am meisten. Wenn du ihn daraus verjagst … dann, ja dann wird er wirklich tot sein! Aber du wirst immer wissen, daß er es nicht ist!«