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Doch Nate konnte sie nirgendwo entdecken.

»Sind Sie Miss Gray?« Die Stimme klang kehlig und besaß einen starken Akzent. Vor Tessa war wie aus dem Nichts ein großer Mann aufgetaucht, mit einem weiten schwarzen Mantel und einem hohen Hut, dessen Krempe das Regenwasser wie eine Zisterne einfing. Er hatte seltsam heraustretende, fast schon hervorquellende Augen wie die eines Froschs und seine Haut wirkte so rau wie Narbengewebe. Nur mit Mühe gelang es Tessa, nicht erschrocken zurückzuweichen. Aber der Mann kannte ihren Namen. Wer in diesem Teil der Erde konnte ihren Namen wissen, wenn er nicht auch Nate kannte?

»Ja.«

»Ihr Bruder schickt mich. Bitte folgen Sie mir.«

»Wo ist er?«, wollte Tessa wissen, doch der Mann marschierte bereits davon. Sein Gang wirkte holprig, als würde er aufgrund einer alten Verletzung hinken. Nach einem Moment der Verwirrung raffte Tessa ihre Röcke und eilte ihm nach.

Zielstrebig bahnte sich der Mann einen Weg durch die Menge. Dabei streifte er mehrere Passanten mit der Schulter, sodass diese zur Seite sprangen und über seine Unhöflichkeit schimpften. Tessa musste förmlich laufen, um mit ihm Schritt zu halten. Kurz darauf bog er abrupt um einen Stapel Kisten und blieb vor einer mächtigen, glänzend schwarzen Kutsche stehen, an deren Schlag goldene Buchstaben prangten. Doch der Regen und der Nebel verhinderten, dass Tessa die Aufschrift genau lesen konnte.

Dann schwang die Tür der Kutsche auf und eine Frau beugte sich heraus. Sie trug einen riesigen Federhut, der ihr Gesicht verbarg. »Miss Theresa Gray?«

Tessa nickte. Der Mann mit den Glupschaugen beeilte sich, der Dame aus der Kutsche zu helfen — und unmittelbar dahinter kam eine weitere Dame zum Vorschein. Beide Frauen öffneten sofort ihre Regenschirme, um sich vor den eisigen Tropfen zu schützen, und musterten dann Tessa.

Ein seltsames Paar, überlegte Tessa: Eine der Frauen war sehr groß und dünn, mit einem hageren, verhärmten Gesicht. Ihre farblosen Haare waren im Nacken zu einem straffen Knoten zusammengesteckt. Sie trug ein Kleid aus leuchtend violetter Seide, die sich durch den Regen an manchen Stellen bereits dunkler verfärbt hatte, und dazu farblich passende violette Handschuhe. Die andere Frau war dagegen klein und gedrungen, mit winzigen Augen, die tief in den Höhlen lagen. Die leuchtend rosafarbenen Handschuhe, die sie über ihre großen Hände gestreift hatte, ließen diese wie grelle Pfoten erscheinen.

»Theresa Gray«, sagte die kleinere der beiden Frauen nun. »Welch eine Freude, endlich Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen. Ich bin Mrs Black und dies ist meine Schwester, Mrs Dark. Ihr Bruder hat uns geschickt, um Sie nach London zu begleiten.«

Durchfroren und verwirrt zog Tessa ihren Umhang fester um die durchnässten Schultern. »Ich verstehe nicht ganz. Wo ist Nate? Und warum ist er nicht selbst gekommen?«

»Er ist leider verhindert. Dringende Geschäftsangelegenheiten haben ihn in London aufgehalten. Mortmain konnte unmöglich auf seine Dienste verzichten. Aber er hat Ihnen eine Nachricht geschickt.« Mrs Black hielt Tessa einen zusammengerollten Papierbogen entgegen, den der Regen bereits zu durchweichen begann.

Tessa nahm den Brief und wandte sich ab, um ihn schnell zu überfliegen. Es war eine kurze Nachricht ihres Bruders, der sich dafür entschuldigte, dass er sie nicht persönlich in Southampton abholen konnte. Außerdem teilte er ihr mit, dass Mrs Black und Mrs Dark — Ich nenne sie die Dunklen Schwestern, Tessie, aus naheliegenden Gründen, und sie scheinen damit durchaus einverstanden zu sein! — sie sicher zu seinem Haus in London geleiten würden. Die beiden Damen seien nicht nur seine Vermieterinnen, sondern auch treue Freundinnen und genössen sein vollstes Vertrauen.

Dieser Brief gab den Ausschlag. Er stammte ganz sicher von Nate — zum einen war das seine Handschrift und zum anderen hatte niemand außer ihm sie je Tessie genannt. Tessa schluckte, rollte die Nachricht zusammen und schob sie in ihren Ärmel. Dann wandte sie sich wieder den Schwestern zu. »Nun denn«, sagte sie und kämpfte gegen das Gefühl der Enttäuschung an — sie hatte sich so sehr auf ein Wiedersehen mit ihrem Bruder gefreut. »Sollen wir einen Gepäckträger bitten, meinen Koffer zu holen?«

»Nicht nötig, nicht nötig«, flötete Mrs Dark, deren heitere Stimme einen seltsamen Kontrast zu ihren verkniffenen grauen Gesichtszügen bildete. »Wir haben bereits dafür Sorge getragen, dass Ihr Gepäck vorausgeschickt wird.« Sie schnippte kurz mit dem Finger, worauf der glupschäugige Mann sich auf den Kutschbock schwang, und legte Tessa eine Hand auf die Schulter. »Kommen Sie, mein Kind. Es wird Zeit, dass wir Sie ins Trockene bringen.«

Als Tessa sich auf die Kutsche zubewegte, von Mrs Darks knochigem Griff vorwärtsgeschoben, lichtete sich der Nebel und ließ das golden schimmernde Emblem auf der Tür zum Vorschein kommen: Die Worte »The Pandemonium Club« wanden sich kunstvoll um zwei Schlangen, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen und einen Kreis bildeten. Tessa runzelte die Stirn. »Was hat das zu bedeuten?«

»Nichts, worüber Sie sich Gedanken machen müssten«, erwiderte Mrs Black, die bereits in die Kutsche geklettert war und ihre Röcke über eine der bequem wirkenden Sitzbänke gebreitet hatte. Das gesamte Innere der Kutsche war mit üppigem violettem Samt ausgestattet und vor den Fenstern hingen violette Vorhänge mit goldenen Quasten.

Mrs Dark half Tessa in die Kutsche und kletterte dann selbst hinterher. Als Tessa sich auf der gegenüberliegenden Sitzbank niedergelassen hatte, griff Mrs Black nach der Kutschtür, zog sie hinter ihrer Schwester fest zu und schloss den peitschenden Regen damit aus. Dann schenkte sie Tessa ein strahlendes Lächeln, wobei ihre Zähne im Halbdunkel der Kutsche wie aus Metall schimmerten. »Machen Sie es sich bequem, Theresa. Wir haben eine lange Fahrt vor uns.«

Tessa lehnte sich gegen die Polster und legte eine Hand um den Klockwerk-Engel an ihrer Kehle. Sein beständiges Ticken spendete ihr Trost, während die Kutsche ruckartig anfuhr und durch den düsteren Nachmittag preschte.

1

Das dunkle Haus

Jenseits dies’ Orts, voll Zorn und Tränen ragt auf der Alb der Schattenwelt.
William Ernest Henley, »Invictus«
Sechs Wochen später

»Die Schwestern wünschen, Sie in ihrem Zimmer zu sehen, Miss Gray.«

Tessa legte das Buch, in dem sie gelesen hatte, auf ihren Nachttisch und drehte sich zu Miranda um, die in der Tür der kleinen Kammer stand — so wie jeden Tag um diese Uhrzeit, wenn sie die Nachricht überbrachte, die sie jeden Tag überbrachte. In ein paar Sekunden würde Tessa sie bitten, im Flur auf sie zu warten, und dann würde Miranda den Raum verlassen. Zehn Minuten später würde sie jedoch zurückkehren und ihre Botschaft wiederholen. Und wenn Tessa nicht gehorsam mitkam, würde Miranda sie packen und hinter sich herziehen — da konnte Tessa sich noch so sehr mit Händen und Füßen dagegen wehren. Miranda würde sie die Treppe hinunterzerren und durch den Flur schleifen, bis zu dem stickig heißen, stinkenden Raum, wo die Dunklen Schwestern bereits auf sie warteten.

Genau so hatte es sich an jedem Tag der ersten Woche im »Dunklen Haus« abgespielt, wie Tessa das Gebäude, in dem sie gefangen gehalten wurde, inzwischen nannte. Bis sie irgendwann erkannt hatte, dass Schreien und Treten ihr nicht viel nützten und reine Kraftverschwendung waren — Kraft, die sie sich besser für andere Gelegenheiten aufsparen konnte.

»Einen Augenblick, Miranda«, sagte Tessa nun. Das Dienstmädchen machte einen ungelenken Knicks, ging aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Tessa stand auf und sah sich in dem kleinen Raum um, der seit den vergangenen sechs Wochen ihre Gefängniszelle darstellte. Die mit einer Blümchentapete versehene Kammer war winzig und äußerst spärlich möbliert: ein schlichter Holztisch mit einem weißen Spitzentischtuch, an dem sie all ihre Mahlzeiten einnahm; ein schmales Messingbett, in dem sie schlief; der abgenutzte Waschtisch mit der angestoßenen Porzellankanne, an dem sie sich wusch; die Fensterbank, die ihr als Bücherregal diente; und ein harter Stuhl, auf dem sie jeden Abend saß und die Briefe an ihren Bruder schrieb — Briefe, von denen sie wusste, dass sie sie nie würde abschicken können und die sie unter ihrer Matratze versteckte, wo die Dunklen Schwestern sie nicht finden würden. Diese Briefe dienten ihr als eine Art Tagebuch und Ausdruck ihrer Hoffnung, dass sie Nate eines Tages wiedersehen würde und sie ihm dann übergeben konnte.