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Sie drehte die Schleife in der Hand und erinnerte sich an das erste Mal, als die Dunklen Schwestern ihr einen Gegenstand gereicht hatten: einen Damenhandschuh mit Perlmuttknöpfen am Handgelenk. Die beiden Frauen hatten sie angeschrien, sich endlich zu verwandein, sie geschlagen und geschüttelt, während Tessa mit wachsender Panik wieder und wieder beteuert hatte, sie wisse nicht, wovon die Schwestern redeten, und sie habe nicht die geringste Ahnung, was sie von ihr wollten.

Damals war sie nicht in Tränen ausgebrochen, obwohl ihr wirklich danach zumute gewesen war. Aber Tessa hasste es zu weinen, vor allem vor Leuten, denen sie nicht traute. Und von den wenigen Menschen auf der Welt, denen sie vertraute, war einer tot und der andere im Gefängnis. Die Dunklen Schwestern hatten ihr das erzählt. Sie hatten ihr versichert, dass sie Nate in ihrer Gewalt hätten und dass er sterben müsste, wenn Tessa nicht tat, was sie verlangten. Zum Beweis hatten sie ihr seinen Ring gezeigt, den Ring, der einst ihrem Vater gehört hatte und der nun blutverklebt war. Zwar hatten die Schwestern ihr nicht erlaubt, ihn in die Hand zu nehmen oder auch nur zu berühren, aber Tessa hatte den Ring trotzdem erkannt. Er gehörte zweifellos Nate.

Danach hatte sie alles getan, was die beiden Frauen von ihr verlangten. Sie hatte das bittere Gebräu geschluckt, das sie ihr gaben, die stundenlangen Übungen über sich ergehen lassen und sich gezwungen, so zu denken, wie es den Schwestern gefiel. Diese hatten ihr befohlen, sie solle sich selbst als einen Klumpen Ton betrachten, der auf der Töpferscheibe geformt und gestaltet wird; sie solle sich vorstellen, sie besäße eine strukturlose und wandelbare Gestalt. Dann hatten sie verlangt, Tessa solle sich tief in die ihr überreichten Gegenstände hineinversetzen, sie als Lebewesen betrachten und den Geist herauslocken, der in ihnen schlummerte.

Es hatte Wochen gedauert, und als Tessa sich schließlich zum ersten Mal verwandelt hatte, war dieses Erlebnis so unerträglich schmerzhaft gewesen, dass sie sich übergeben musste und dann das Bewusstsein verloren hatte. Als sie wieder zu sich gekommen war, hatte sie auf einem der stockfleckigen Sofas im Büro der Schwestern gelegen, ein feuchtes Tuch auf der Stirn. Mrs Black hatte sich über sie gebeugt, mit essigsaurem Atem und leuchtenden Augen.

»Das hast du gut gemacht, Theresa«, hatte sie gesagt.

»Sehr gut.«

Als Tessa an jenem Abend in ihr Zimmer zurückgekehrt war, hatten dort Geschenke für sie gelegen — zwei neue Bücher auf ihrem Nachttischchen. Offenbar hatten die Dunklen Schwestern erkannt, dass Tessas größte Leidenschaft das Lesen war, und ihr eine Ausgabe von Dickens’ Große Erwartungen und Louisa May Alcotts Roman Betty und ihre Schwestern besorgt. Tessa hatte die beiden Bücher an sich gedrückt und sich in der Einsamkeit ihres kleinen Zimmers gestattet, in Tränen auszubrechen.

Danach war es ihr leichter gefallen ... das Verwandeln. Zwar verstand Tessa noch immer nicht, was in ihrem Inneren dabei vor sich ging, aber sie hatte sich die Schritte eingeprägt, die die Dunklen Schwestern sie gelehrt hatten — so wie sich ein Blinder die Anzahl der Schritte merkt, die er vom Bett zur Schlafzimmertür benötigt. Tessa wusste nicht, was sich um sie herum an diesem seltsamen dunklen Ort befand, den sie auf Geheiß der Schwestern aufsuchen musste, aber sie kannte den Weg, der durch ihn hindurchführte.

Diese Erinnerungen nahm sie nun zu Hilfe und schloss ihre Finger fest um das verschlissene rosa Haarband in ihrer Hand. Dann öffnete sie ihren Geist und ließ die Dunkelheit über sich hereinbrechen. Sie ließ sich durch die Verbindung führen, die sie mit der Schleife und dem darin innewohnenden Geist — das geisterhafte Echo der früheren Besitzerin des Gegenstands — untrennbar verknüpfte, ließ sich wie von einem leuchtend goldenen Faden durch die Schatten geleiten. Der Raum, in dem sie sich befand, die stickige Hitze, die schnaufende Atmung der Dunklen Schwestern, all dies versank um sie herum, während sie dem Faden folgte und das Licht immer heller leuchtete, bis es sie schließlich umhüllte wie eine wärmende Decke. Ihre Haut begann, zu prickeln und dann zu brennen, als würden Tausende winziger Nadeln hineinstechen. Diese Phase der Verwandlung war anfangs der schlimmste Teil gewesen — jener Teil, der Tessa davon überzeugte, dass sie jeden Moment sterben würde. Doch inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt und ertrug diese Phase mit stoischer Gelassenheit, während ihr ganzer Körper zu zittern begann. Der KlockwerkEngel an ihrem Hals schien schneller zu ticken, wie im Einklang mit dem Rhythmus ihres pochenden Herzens. Und der Druck unter ihrer Haut stieg immer mehr an, bis Tessa schließlich aufstöhnte und die geschlossenen Augen aufriss, wobei sich die aufgestaute Spannung schlagartig entlud.

Es war vollbracht.

Tessa blinzelte benommen. Der erste Moment nach der Verwandlung erinnerte sie immer an das Auftauchen aus einem Badezuber, mit winzigen Wasserperlen, die an den Wimpern hafteten. Langsam schaute sie an sich herab: Ihre neue Gestalt wirkte zart, fast schon zerbrechlich, und der Stoff ihres Kleides hing lose an ihr herab und warf Falten auf dem Boden. Tessas Blick fiel auf ihre Hände, die sie vor der Brust zusammengepresst hatte — bleiche, dünne Hände mit gesprungenen Fingerspitzen und abgekauten Nägeln, unbekannte, fremde Hände.

»Wie heißt du?«, fragte Mrs Black herrisch. Sie war aufgestanden und schaute aus blassen, brennenden, fast schon gierigen Augen auf Tessa herab.

Tessa brauchte nicht zu reagieren: Das Mädchen, dessen Haut sie trug, antwortete für sie und sprach durch sie, so wie Geister offenbar durch ein Medium kommunizierten. Aber Tessa gefiel dieser Vergleich nicht — die Verwandlung war so viel intimer und so viel furchteinflößender. »Emma«, erwiderte die Stimme aus ihrem Inneren nun. »Miss Emma Bayliss, Madam.«

»Und wer bist du, Emma Bayliss?«

Die Stimme antwortete und die Worte ergossen sich aus Tessas Mund und brachten lebendige Bilder mit sich: Emma war in Cheapside zur Welt gekommen, als eines von sechs Kindern. Ihr Vater war tot und ihre Mutter verkaufte im East End Pfefferminzwasser von einem Handkarren. Schon als kleines Kind hatte Emma gelernt, durch Näharbeiten ihren Teil zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Bis spätabends saß sie an dem niedrigen Küchentisch und nähte Säume im Schein einer Talgkerze. Und manchmal, wenn der Stummel vollständig herabgebrannt war und die Familie kein Geld zum Kauf einer neuen Kerze besaß, ging das Mädchen hinaus auf die Straße und hockte sich unter eine der städtischen Gaslaternen, um dort ihre Arbeit fortzusetzen ...

»War das der Grund, warum du dich in der Nacht deines Todes auf der Straße herumgetrieben hast, Emma Bayliss?«, fragte Mrs Dark. Sie lächelte matt und fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe, als könne sie die Antwort förmlich erahnen.

Plötzlich sah Tessa eine schmale dunkle Gasse vor sich, mit weißen Nebelschwaden, und eine silberne Nadel, die im schwachen Schein des gelblichen Gaslichts auf und ab wippte. Dann ertönten Schritte, gedämpft durch den dichten Smog. Hände griffen aus den Schatten nach ihr, packten sie an den Schultern, zerrten sie in die Dunkelheit. Sie schrie auf. Das Nähzeug rutschte ihr aus den Fingern und die rosa Schleife fiel aus ihren Haaren, während sie sich verzweifelt wehrte. Eine harsche Stimme schrie sie wütend an. Und dann blitzte die silberne Klinge eines Messers auf, schlitzte ihre Haut auf, ließ das Blut aufspritzen. Ein Schmerz so brennend wie Feuer und nie gekannte Furcht durchfuhren ihren Körper. In Todesangst schlug sie um sich und es gelang ihr, dem Mann, der sie festhielt, den Dolch aus der Hand zu treten. Mit dem Mut der Verzweiflung raffte sie die Waffe an sich und rannte fort, so schnell sie konnte, während das Blut immer schneller aus der klaffenden Wunde strömte und sie immer schwächer wurde. Mühsam schleppte sie sich in einen Durchgang, wo sie schließlich zusammenbrach. Plötzlich hörte sie ein heiseres Zischen hinter sich. Sie wusste instinktiv, dass irgendetwas ihr gefolgt war, und sie hoffte inständig, dass sie sterben würde, bevor es sie eingeholt hatte ... Die Verwandlung zerbrach wie springendes Glas. Mit einem Aufschrei stürzte Tessa auf die Knie und die zerrissene kleine Schleife glitt ihr aus der Hand. Sie befand sich wieder in ihrem eigenen Körper —