Jessamine warf den Kopf in den Nacken. »Als ob es ihnen irgendetwas nutzen würde, wenn wir Trübsal blasen. Ich bin mir sicher, dass sie es lieber sähen, wenn wir während ihrer Abwesenheit heiter und vergnügt sind, statt tatenlos und sauertöpfisch herumzusitzen.«
Tessa runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee war, Nate zum Kartenspielen aufzufordern, Jessamine«, gab sie zu bedenken. »Du weißt ganz genau, dass er ... Schwierigkeiten ... mit Glücksspielen hat.«
»Hier geht es nicht um Glücksspiel, sondern um eine harmlose Partie Karten«, erwiderte Jessamine blasiert. »Also wirklich, Tessa, musst du denn immer solch ein Miesepeter sein?«
»Ein was? Jessamine, ich weiß, dass du nur versuchst, Nate bei guter Laune zu halten. Doch das ist nicht der richtige Weg ...«
»Ach, wirklich? Aber du verstehst dich ja ganz vorzüglich darauf, das Herz eines Mannes zu gewinnen, nicht wahr?«, schnappte Jessamine mit entrüstet funkelnden Augen. »Glaubst du, ich hätte nicht bemerkt, wie du Will mit großen Hundeaugen ansiehst? Als ob er überhaupt ... Ach, vergiss es!« Aufgebracht warf sie die Hände in die Luft. »Du machst mich krank. Ich werde jetzt mit Agatha reden, und zwar ohne dich.«
Damit erhob sie sich, rauschte aus dem Salon und hielt nur noch einen kurzen Moment in der Türöffnung inne. »Es ist mir ja bekannt, dass du keinen allzu großen Wert auf dein Äußeres legst, Tessa, aber du solltest dir wenigstens einmal die Haare kämmen! Sie sehen aus, als würden Vögel darin nisten!«, bemerkte sie spitz und warf die Tür krachend hinter sich zu. Obwohl Tessa es eigentlich besser wusste, versetzten Jessamines Worte ihr dennoch einen Stich. Eilig lief sie auf ihr Zimmer, spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht und fuhr sich mit der Bürste durch die wirren Haare. Während sie ihr eigenes bleiches Antlitz im Spiegel betrachtete, versuchte sie, sich nicht mit der Frage zu beschäftigen, ob sie noch immer wie die kleine Schwester aussah, die Nate in Erinnerung haben musste — oder wie sehr sie sich möglicherweise verändert hatte.
Als sie mit dem Kämmen fertig war, stürmte sie hinaus in den Flur — und wäre fast mit Will zusammengestoßen, der an der gegenüberliegenden Wand lehnte und eingehend seine Nägel studierte. Wie üblich schenkte er der Etikette nicht die geringste Beachtung: Statt Weste und Gehrock trug er nur ein weißes Hemd, über dessen Brust kreuzweise breite Ledergurte verliefen. Offenbar hatte er sich eine lange, schmale Klinge auf den Rücken geschnallt — Tessa konnte das Heft der Waffe über seiner Schulter aufragen sehen — und auch in seinen Gürtel hatte er weitere lange weiße Seraphschwerter geschoben.
»Ich ...«, setzte Tessa an, doch dann fielen ihr wieder Jessamines Worte ein: »Glaubst du, ich hätte nicht bemerkt, wie du Will mit großen Hundeaugen ansiehst?« Die Elbenlichter im Korridor flackerten leise. Tessa hoffte inständig, dass ihr Licht nicht ausreichte, um Will die verräterische Röte auf ihren Wangen zu zeigen. »Ich dachte, du würdest die Brigade heute Abend nicht begleiten«, presste sie schließlich hervor, um wenigstens irgendetwas zu sagen.
»Das habe ich auch nicht vor. Ich bringe lediglich diese Waffen hinunter zu Charlotte und Henry, die bereits im Innenhof warten. Benedict Lightwood hat angeboten, seine Kutsche zu schicken; die ist deutlich schneller als unsere. Sie müsste jeden Moment hier eintreffen.« Tessa glaubte, ein Lächeln um Wills Lippen zu sehen, war sich aufgrund des Dämmerlichts im Flur aber nicht vollkommen sicher. »Sorgst du dich etwa um meine Sicherheit? Oder wolltest du mir vielleicht sogar ein Andenken als Zeichen deiner Gunst überreichen, das ich dann wie Wilfred of Ivanhoe mit in die Schlacht tragen kann?«
»Dieses Buch habe ich nie gemocht«, erwiderte Tessa. »Rowena war ja so eine dumme Nuss. Ivanhoe hätte sich für Rebecca entscheiden sollen.«
»Für die dunkelhaarige Maid und nicht für das blonde Edelfräulein? Wirklich?«, entgegnete Will und Tessa war sich nun ziemlich sicher, dass er lächelte.
»Will ...?«
»Ja?«
»Glaubst du, der Brigade wird es gelingen, ihn zu töten? De Quincey, meine ich.«
»Ja«, verkündete Will ohne das geringste Zögern.
»Die Zeit der Verhandlungen ist vorüber. Wenn du jemals einen Terrier beim Rattenbeißen erlebt hast ... nun ja, vermutlich hattest du bisher keine Gelegenheit dazu. Aber genau so wird es heute Abend ablaufen:
Die Brigade wird einen Vampir nach dem anderen erledigen, bis sie alle vernichtet sind.«
»Du meinst, in London wird es keine Vampire mehr geben?«
»Vampire wird es immer geben«, erwiderte Will achselzuckend. »Aber de Quinceys Clan wird von der Erdoberfläche verschwunden sein.«
»Und wenn alles vorüber ist, wenn der Magister nicht mehr existiert, dann gibt es für Nate und mich vermutlich auch keinen Grund mehr, noch länger im Institut zu bleiben, oder?«
»Ich ...« Will schien aufrichtig bestürzt. »Ich vermute ... nun ja, das ist wahrscheinlich richtig. Ich könnte mir vorstellen, dass du es vorziehst, an einem weniger ... gewaltbeherrschten Ort zu wohnen. Vielleicht bekommst du ja sogar ein paar der schöneren Ecken Londons zu sehen. Westminster Abbey ...«
»Am liebsten würde ich nach Hause zurückkehren«, sagte Tessa. »Nach New York.«
Will schwieg.
Das Elbenlicht im Korridor war inzwischen fast erloschen und in den Schatten konnte Tessa Wills Gesicht kaum noch wahrnehmen.
»Es sei denn, es gäbe für mich einen Grund hierzubleiben«, fuhr sie fort, selbst ein wenig verwundert, was sie damit gemeint haben mochte. Es fiel ihr deutlich leichter, auf diese Weise mit Will zu reden — wenn sie sein Gesicht nicht sehen und nur seine Anwesenheit dicht vor ihr im dunklen Flur spüren konnte.
Im nächsten Moment fühlte sie, wie seine Finger leicht über ihren Handrücken streiften. »Tessa«, sagte er leise. »Bitte mach dir keine Sorgen. Schon bald wird alles geregelt sein.«
Tessas Herz pochte wild und schmerzhaft gegen ihre Rippen. Schon bald würde was geregelt sein? Er konnte unmöglich das Gleiche im Sinn haben wie sie — er musste irgendetwas anderes gemeint haben.
»Verspürst du denn nicht den Wunsch, nach Hause zurückzukehren?«, fragte sie atemlos.
Will bewegte sich nicht. Seine Finger berührten noch immer ihren Handrücken. »Ich werde niemals nach Hause zurückkehren können.«
»Aber warum denn nicht?«, wisperte Tessa, doch es war bereits zu spät. Sie spürte, wie er sich innerlich von ihr entfernte und einen Sekundenbruchteil später auch seine Hand zurückzog. »Ich weiß, dass deine Eltern hierher zum Institut gekommen sind, als du gerade zwölf warst, und dass du dich geweigert hast, mit ihnen zu sprechen. Aber warum? Was haben sie dir angetan, das so schrecklich war?«
»Sie haben gar nichts getan.« Will schüttelte den Kopf. »Ich muss gehen. Henry und Charlotte erwarten mich.«
»Will«, setzte Tessa an, doch er hatte sich schon abgewandt und schritt davon — eine schlanke dunkle Gestalt, die in Richtung Treppe eilte. »Will«, rief sie ihm hinterher. »Will, wer ist Cecily?«
Aber der junge Schattenjäger war bereits verschwunden.
Als Tessa in den Salon zurückkehrte, saßen Nate und Jessamine wieder beieinander. Tessa marschierte direkt zum Fenster und schaute hinaus: Jem, Henry, Will und Charlotte hatten sich unten im Innenhof versammelt und warfen in der Abendsonne lange dunkle Schatten auf die Stufen zur Institutstür. Henry trug sich gerade eine weitere Heilrune auf, während Charlotte den beiden jungen Männern letzte Anweisungen zu erteilen schien. Jem nickte, doch selbst aus der Entfernung konnte Tessa erkennen, dass Will, der mit verschränkten Armen dastand, nur widerstrebend zuhörte. Er möchte sie gern begleiten, schoss es ihr durch den Kopf. Er will nicht hierbleiben. Vermutlich verspürte Jem den gleichen Wunsch, doch er würde sich deswegen niemals beschweren. Das war der große Unterschied zwischen den beiden ... jedenfalls einer der Unterschiede, überlegte sie.