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»Also«, sagte Vince, als alle saßen. »Denk mal an die Geschichten, die wir Hanratty beim Mittagessen erzählt haben, Steffi: die Lisa Cabbot, die Lichter an der Küste, die wandernden Mormonen, das Kirchenpicknick von Tashmore, alles Rätsel, die nie gelöst wurden, und dann sag mir, was sie alle gemeinsam haben.«

»Sie sind alle ungelöst.«

»Streng dich ein bisschen mehr an, mein Mädchen«, sagte Dave. »Enttäusch mich nicht!«

Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und merkte, dass er es ernst meinte. Klar, die Antwort lag auf der Hand, wenn man bedachte, weshalb Hanratty sie überhaupt zum Essen eingeladen hatte: wegen der achtteiligen Serie des Globe (eventuell sogar zehnteilig, hatte Hanratty erklärt, wenn er genügend sonderbare Geschichten fände), die aller Voraussicht nach zwischen September und Halloween erscheinen sollte. »Sie wurden alle schon zigmal durchgekaut?«

»Schon ein bisschen besser«, meinte Vince, »aber das ist auch nichts Neues. Frag dich doch mal dies, Kleine: Warum wurden sie alle schon zigmal durchgekaut? Warum zerrt mindestens einmal im Jahr eine Zeitung aus Neuengland die Lichter an der Küste hervor und druckt dazu ein paar verschwommene Fotos, die mindestens fünfzig Jahre alt sind? Warum interviewen regionale Zeitschriften wie Yankee oder Coast mindestens einmal pro Jahr Clayton Riggs oder Ella Ferguson, als ob sie auf einmal wie der Springteufel aus der Schachtel hüpfen und etwas völlig Neues verraten würden?«

»Die Namen habe ich noch nie gehört«, sagte Stephanie.

Vince schlug sich auf den Hinterkopf. »Ah jo, ich Dummkopf. Ich vergesse ständig, dass du nicht von hier bist.«

»Soll ich das als Kompliment verstehen?«

»Könntest du, solltest du sogar. Clayton Riggs und Ella Ferguson waren die Einzigen, die damals beim Picknick am Tashmore Lake den Eiskaffee getrunken haben und nicht daran gestorben sind. Der Ferguson geht’s ganz gut, aber Riggs’ linke Körperhälfte ist gelähmt.«

»Wie schrecklich! Und trotzdem werden sie immer wieder befragt?«

»Ah jo. Fünfzehn Jahre sind ins Land gegangen, und wahrscheinlich weiß jeder, der noch einen Funken Verstand im Kopf hat, dass niemals jemand für dieses Verbrechen belangt werden wird – acht Menschen am Seeufer wurden vergiftet, sechs davon starben –, dennoch tauchen Ferguson und Riggs immer wieder in der Presse auf, jedes Jahr klappriger: ›Was geschah an jenem Tag?‹ oder ›Der Schrecken am See‹ und so weiter … du weißt, was ich meine. Es ist einfach eine Geschichte, die die Leute gerne hören, so wie ›Rotkäppchen‹ oder ›Die drei kleinen Schweinchen‹. Die Frage ist bloß: warum?«

Stephanie war schon ein Stück weiter. »Ihr habt da was, oder?«, fragte sie. »Eine Geschichte, die ihr ihm nicht erzählt habt. Stimmt’s?«

Wieder tauschten die Männer einen Blick aus, doch diesmal konnte Stephanie nicht einmal ansatzweise enträtseln, welchen Gedanken die beiden hatten. Sie saßen in identischen Gartenstühlen. Stephanies Hände ruhten auf den Armlehnen. Dave beugte sich vor und tätschelte ihre Hand. »Wir werden’s dir erzählen, nicht wahr, Vince?«

»Doch, denke schon«, sagte Vince und lächelte in die Sonne. Erneut legte sich seine Haut in unzählige Falten.

»Aber wer mit der Fähre fahren will, muss dem Steuermann Tee mitbringen – Tea for the Tillerman. Kennst du das Lied?«

»Ich glaube schon.« Stephanie kam eine alte Schallplatte ihrer Mutter in den Sinn, oben auf dem Dachboden.

»Gut«, sagte Dave, »dann beantworte mir eine Frage: Hanratty wollte die Geschichten nicht, weil sie schon zigmal durchgekaut wurden. Warum?«

Sie dachte nach, die beiden Männer ließen ihr Zeit. Es machte ihnen Freude, der jungen Frau beim Grübeln zuzusehen.

»Also«, sagte Stephanie schließlich, »wahrscheinlich hören die Leute gerne Geschichten, bei denen man sich an einem Winterabend ein bisschen gruseln kann, besonders wenn die Lampen leuchten und der Kamin gemütlich knistert. Geschichten über das Unbekannte halt.«

»Wie viel Unbekanntes pro Geschichte, mein Mädchen?«, fragte Vince Teague. Seine Stimme war sanft, aber seine Augen durchbohrten Stephanie.

In Gedanken beim Kirchenpicknick wollte sie gerade sagen: höchstens sechs, doch dann besann sie sich eines Besseren. An jenem Tag waren am Ufer des Tashmore Lake tatsächlich sechs Menschen ums Leben gekommen, doch es war nur eine große Giftmenge gewesen, die, wie Stephanie annahm, vom Täter in den Eiskaffee gerührt worden war. Sie wusste nicht, wie viele Lichter an der Küste zu sehen gewesen waren, ging aber davon aus, dass man sie als Gesamtphänomen betrachtete.

»Eins?«, fragte sie zögernd. Sie kam sich vor wie ein Kandidat in der letzten Runde von Jeopardy. »Eine unbekannte Tatsache pro Geschichte?«

Vince richtete den Finger wie eine Pistole auf sie, grinste breiter denn je zuvor, und Stephanie atmete erleichtert auf. Sicher war dies kein richtiger Unterricht, und die beiden Männer würden sie genauso gern mögen, wenn sie eine Antwort verpatzte, dennoch wollte sie sie unbedingt zufrieden stellen. Das hatte sie sonst nur bei ihren allerbesten Lehrern an der High School und am College gewollt. Bei den leidenschaftlichen, mitreißenden Lehrern.

»Außerdem müssen die Leute im Grunde ihres Herzens überzeugt sein, dass sich die Geschichte auf eine bestimmte Weise zugetragen hat. Daran müssen sie wirklich tief und fest glauben«, ergänzte Dave. »Zum Beispiel die Pretty Lisa, die 1926 an den Felsen südlich von Dingle Nook auf Smack Island angeschwemmt wurde.«

»1927«, korrigierte Vince.

»Na gut, dann halt ’27, du Klugschwätzer, aber Teodore Riponeaux war noch an Bord, nur leider mausetot, und die anderen fünf waren verschwunden. Und obwohl es keine Blutspuren oder Anzeichen eines Kampfes gab, sind die Leute überzeugt, dass es Piraten waren. Man erzählt sich sogar, die Besatzung hätte eine Schatzkarte an Bord gehabt und vergrabenes Gold gefunden, aber der Schatz sei bewacht gewesen, sie hätten ihn nicht bekommen und so weiter und so fort.«

»Oder sie wären sich untereinander in die Haare geraten«, ergänzte Vince. »Das gehörte schon immer zu den beliebtesten Theorien über das Schicksal der Pretty Lisa. So ist es halt – manche Geschichten wollen erzählt und gehört werden. Hanratty war klug genug zu wissen, dass sein Redakteur diesen aufgewärmten Brei nicht annehmen würde.«

»Vielleicht in zehn Jahren noch mal«, vermutete Dave.

»Irgendwann ist alles Alte wieder neu. Das glaubst du vielleicht nicht, Steffi, aber es stimmt.«

»Doch, das glaube ich gerne«, sagte sie und dachte: Dieses Lied mit der Fähre, Tea for the Tillerman, von wem war das noch mal? Von Al Stewart oder Cat Stevens?

»Dann die Sache mit den Küstenlichtern«, fuhr Vince fort.

»Ich kann dir genau sagen, warum die Geschichte immer so beliebt war. Es existiert ein Foto. Es steckte wohl nichts anderes dahinter als die Lichter von Ellsworth, die von den niedrigen Wolken reflektiert wurden. So entstanden Kreise, die wie fliegende Untertassen aussahen. Jedenfalls steht unten im Bild die gesamte Kinderbaseballmannschaft von Hancock Lumber im Trikot und schaut in die Wolken.«

»Und ein kleiner Junge zeigt mit seinem Handschuh nach oben«, ergänzte Dave. »Das ist das i-Tüpfelchen. Die Leute betrachten das Foto und sagen sich: ›Mensch, das sind bestimmt Besucher aus dem Weltall, die sich mal kurz die berühmteste Freizeitbeschäftigung Amerikas ansehen wollen.‹ Dennoch: Es ist ein einzelnes unbekanntes Phänomen, bloß mit spektakulären Bildern, deshalb interessieren sich die Leute immer wieder dafür.«

»Nur nicht der Boston Globe«, warf Vince ein, »auch wenn ich vermute, dass er im Notfall drauf zurückgreifen würde.«

Die beiden Männer lachten so entspannt, wie es nur alte Freunde tun.