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»Also«, sagte Vince, »vielleicht kennen wir tatsächlich ein ungelöstes Rätsel …«

»Das ist leicht untertrieben«, sagte Dave. »Wir kennen mindestens eins, mein Mädchen, bloß haben wir nicht die geringste Ahnung, was damals passiert ist …«

»Eventuell das Steak«, warf Vince ein, klang aber nicht sehr überzeugt.

»Oh, ah jo, aber das ist ja selbst schon ein Rätsel, meinst du nicht?«, gab Dave zurück.

»Doch«, stimmte Vince zu, ziemlich zerknirscht. Er sah auch so aus.

»Ich komme nicht mehr mit«, gestand Stephanie.

»Ah jo, die Geschichte von Colorado Kid ist ziemlich verwirrend, das stimmt«, bestätigte Vince, »weshalb sie auch nichts für den Globe ist, würde ich sagen. Zuerst mal zu viele Unbekannte. Außerdem nichts, wo man mit Sicherheit sagen könnte: So ist es gewesen.«

Er beugte sich vor und fixierte Stephanie mit seinem klaren blauen Yankee-Blick. »Du willst doch Journalistin werden, oder?«

»Das wisst ihr doch«, sagte Stephanie verdutzt.

»Gut, dann verrate ich dir ein Geheimnis, das so gut wie jeder Journalist kennt, der einige Zeit dabei ist: Im wahren Leben gibt es nur wenige bis gar keine runden Geschichten, also Geschichten mit Anfang, Mitte und Ende. Aber wenn man dem Leser eine Unbekannte vorsetzt (allerhöchstens zwei) und dann das beisteuert, was unser Dave Bowie ein ›Muss‹ nennt, erzählt sich der Leser diese Geschichte selbst. Erstaunlich, was?

Zum Beispiel das Kirchenpicknick. Keiner weiß, wer die Leute vergiftet hat. Man weiß nur, dass Rhoda Parks, die Sekretärin der Methodistengemeinde von Tashmore, und William Blakee, der Pastor der Methodistengemeinde, ein halbes Jahr vor dem Picknick eine kurze Affäre hatten. Blakee war verheiratet und machte Schluss. Kannst du mir folgen?«

»Ja«, versicherte Stephanie.

»Man weiß auch, dass Rhoda Parks untröstlich war, zumindest eine Zeit lang. Sagte ihre Schwester. Was ist noch bekannt? Sowohl Rhoda Parks als auch William Blakee tranken den vergifteten Eiskaffee beim Picknick und starben. Was ist das Muss hier? Los, Steffi, frei von der Leber weg!«

»Rhoda hat den Kaffee vergiftet, um ihren Geliebten zu töten, weil er sie sitzen gelassen hat, dann hat sie Selbstmord verübt. Die anderen vier – und die, denen schlecht wurde – waren, wie nennt man es noch mal, Kollateralschaden.«

Vince schnippte mit den Fingern. »Ah jo, das ist die Geschichte, die die Leute sich zusammenreimen. Die Zeitungen und Zeitschriften rücken nie so ganz mit der Sprache heraus, müssen sie ja auch nicht. Sie wissen, dass die Leute schon die entsprechenden Schlüsse ziehen. Aber was spricht dagegen? Noch mal, frei von der Leber!«

Doch diesmal funktionierte ihre Leber wohl nicht richtig, denn Stephanie fiel kein Gegenargument ein. Sie wollte gerade protestieren, dass sie den Fall nicht gut genug kenne, da stand Dave auf, stellte sich an die Brüstung, schaute über das Wasser nach Tinnock und bemerkte leise: »Sechs Monate Wartezeit kommen einem ziemlich lang vor, oder?«

Stephanie sagte: »Vielleicht war es einfach nur späte Rache?«

»Ah jo«, erwiderte Dave, immer noch leise, »aber wenn man sechs Menschen vergiftet, ist das ein bisschen mehr als Rache. Ich sage ja nicht, dass es nicht so gewesen ist, nur dass es auch anders gelaufen sein könnte. Genauso wie die Küstenlichter Reflexionen in den Wolken gewesen sein können … oder irgendwas Geheimes, das von der Air Force getestet wurde und vom Luftwaffenstützpunkt Bangor stammte … oder, wer weiß, vielleicht waren es tatsächlich grüne Männchen, die mal eben gucken wollten, ob die Jungs von Hancock Lumber gegen die von Tinnock Auto Body einen Homerun schaffen.«

»Meistens legen sich die Leute eine Geschichte zurecht und bleiben dann dabei«, erklärte Vince. »Das ist nicht schwer, solange es nur eine Unbekannte gibt: einen Giftmischer, eine mysteriöse Lichterscheinung, ein auf Grund gesetztes Schiff mit nur einem Mann Besatzung an Bord. Aber bei Colorado Kid gibt es eigentlich nur Unbekannte und deshalb gibt es keine richtige Geschichte.« Er hielt inne. »Wie eine Lokomotive, die aus dem Kamin kommt, oder Pferdeköpfe, die eines Morgens in der Auffahrt liegen. Nicht so spektakulär, aber genauso unerklärlich. Und solche Dinge …« Er schüttelte den Kopf. »Steffi, so was mögen die Leute nicht. Sie wollen so was einfach nicht. Wenn man am Strand steht, ist ein gewaltiger Brecher schön anzusehen, aber zu viele machen seekrank.«

Stephanie sah hinaus auf die funkelnde Wasserfläche – voller Wellen, aber sie waren nicht groß, heute nicht. Schweigend dachte sie nach.

»Da ist noch was«, sagte Dave nach einer Weile.

»Was denn?«, fragte sie.

»Die Story gehört uns«, erwiderte er, mit überraschendem Nachdruck. Stephanie fand, dass es fast zornig klang. »Ein Typ vom Globe, einer, der nicht von hier kommt, der würde sie nur vermasseln. Der würde sie nicht verstehen.«

»Und du verstehst sie?«, fragte sie.

»Nein«, entgegnete er und setzte sich wieder. »Muss ich ja auch nicht, mein Mädchen. Was Colorado Kid angeht, bin ich ein bisschen wie die Jungfrau Maria, nachdem sie Jesus zur Welt gebracht hatte. In der Bibel steht: ›Und Maria schwieg und bewegte die Dinge in ihrem Herzen‹. Bei Rätseln ist das manchmal das Beste.«

»Aber mir wollt ihr es erzählen?«

»Na, aber sicher!« Überrascht schaute Dave sie an. Es sah ein wenig aus, als erwache er aus dem Halbschlaf.

»Denn du bist eine von uns. Stimmt’s, Vince?«

»Ah jo«, entgegnete Vince. »Irgendwann im Sommer hast du die Prüfung bestanden.«

»Ach ja?« Wieder war sie grotesk glücklich. »Wie denn? Was für eine Prüfung?«

Vince schüttelte den Kopf. »Weiß ich auch nicht, mein Mädchen. Ich weiß nur, irgendwann war das Gefühl da, dass du in Ordnung bist.« Er warf Dave einen kurzen Blick zu, und der nickte. Dann wandte er sich wieder an Stephanie. »Gut«, sagte er. »Die Geschichte, die wir heute Mittag nicht erzählt haben, ist unser ganz persönliches ungelöstes Rätsel. Die Geschichte von Colorado Kid.«

5

Doch Dave war derjenige, der zu erzählen begann.

»Vor fünfundzwanzig Jahren«, sagte er, »also im Jahr 1980, gab es mal zwei Jugendliche, die zur Schule nie die Fähre um halb acht, sondern die um halb sieben nahmen. Sie gehörten zur Leichtathletikmannschaft der Bayview Consolidated High School und sie gingen miteinander. Sobald der Winter vorüber war – was hier an der Küste immer früher der Fall ist als auf dem Festland –, liefen sie querfeldein über die Insel, den Hammock Beach hinunter bis zur Hauptstraße, dann auf die Bay Street und zum städtischen Anleger. Kannst du sie vor dir sehen, Steffi?«

Das konnte sie. Sie sah auch die Liebe zwischen den beiden. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, was das Pärchen tat, wenn es auf dem Festland in Tinnock angekommen war. Stephanie wusste, dass die zwölf bis fünfzehn Highschool-Kinder von Moose-Look fast immer die Fähre um halb acht nahmen. Sie gaben dem Fährmann – Herbie Gosslin oder Marcy Lagasse – ihren Ausweis und wurden mit einem kurzen Piepser der alten Laserpistole registriert. In Tinnock wartete der Schulbus auf sie, der sie die drei Meilen zur BCHS fuhr.

Stephanie erkundigte sich, ob das Pärchen dort ebenfalls auf den Bus gewartete hätte, doch Dave schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nein, die sind drüben weitergelaufen«, erklärte er.

»Nix mit Händchenhalten, obwohl, es könnte schon sein. Die beiden waren unzertrennlich. Johnny Gravlin und Nancy Arnault. Ein paar Jahre lang passte kein Blatt zwischen sie.«

Stephanie setzte sich auf. Der John Gravlin, den sie kannte, war der Bürgermeister von Moose-Lookit Island, ein geselliger Mann, der für jeden ein gutes Wort übrig hatte und ein Auge auf einen Posten im Senat in Augusta geworfen hatte. Sein Haaransatz ging zurück, sein Bauch wölbte sich vor. Stephanie versuchte sich ihn als jungen Mann vorzustellen, der jeden Tag zwei Meilen über die Insel und dann noch mal drei auf dem Festland lief. Es gelang ihr nicht.