»Von wem stammt das?«
Sie sah verblüfft drein, dann ein wenig so, als müsse sie sich verteidigen. »Von meinem Vater, genau gesagt.«
Ich ging nicht darauf ein und widersprach auch nicht. An jeder dogmatischen Auffassung war etwas Wahres, und es
war durchaus schon vorgekommen, daß britische wie auch andere Botschafter angehenden Aggressoren die falschen Signale übermittelt hatten - zum Beispiel, daß die angestrebte Gewaltherrschaft auf wenig oder gar keinen Widerstand von englischer Seite stoßen werde. Sowohl der Kaiser als auch Hitler, hieß es, waren eingeschnappt, als der vermeintlich ergebene britische Löwe aufgewacht war und gebrüllt hatte.
Botschafter aller Länder konnten Sachverhalte mißverstehen und taten das auch oft. Alles hing davon ab, wie ihre Order von zu Hause lauteten und welche Informationen sie vor Ort erhielten. Meine eigentliche Aufgabe hatte jeweils darin bestanden, herauszufinden, was in unserem Gastland wirklich hinter den Kulissen passierte, und meine Vorgesetzten darüber auf dem laufenden zu halten. So hatte ich an Parties und an Abendessen teilgenommen oder selbst welche gegeben, mit dem einzigen Ziel, Gerüchte aufzufangen und zu prüfen, herauszubekommen, wer Einfluß hatte, wer Ideale hatte, wer mit wem schlief, wer an welcher Krankheit litt, wer Drogen nahm, wer trank, wer seine Frau schlug, wer einem jedes Märchen glaubte, wer nur auf Geld aus war, wen man kaufen oder erpressen konnte, wer wahrscheinlich zusammenklappen oder zurücktreten würde, wessen Informationen mitunter zu trauen war und wessen niemals, wessen Freundschaftsbeteuerungen eventuell ehrlich waren und wessen nicht.
Auf dieses Spiel verstand ich mich inzwischen ganz gut, aber es war unmöglich, immer richtig zu liegen. Und selbst wenn ein Botschafter mit lupenreinen Informationen versorgt wird, gibt es noch keine Garantie dafür, daß die Regierung zu Hause ihm glaubt und dementsprechend handelt. Das Haareraufen kann opernhafte Dimensionen erreichen in einer Botschaft, auf die niemand hört. Kein
Land der Erde ist davon ausgenommen.
Die Herren vom japanischen Jockey-Club kamen zurück, verbeugten sich mehrmals, und einer von ihnen brachte ganz besondere Freude zum Ausdruck, als ich ihm sagte, ich würde ihn kennen. Er entschuldigte sich dafür, daß er mich nicht auch sofort erkannt hatte. Wir rissen eine Menge Plattheiten und Verbeugungen herunter. Schließlich fragte ich, ob ich noch irgend etwas für sie tun könne, und sie sagten mit sichtlichem Eifer, sie hätten gern nicht zu starken heißen Tee ohne Milch und Zucker und - hier schlug ein gepflegter Humor durch - dazu eine japanische Teezeremonie. Als Gast und Genießer zahlloser Teezeremonien fragte ich sie, ob Miss Annabel da wohl einspringen könnte, wenn auch ohne Kimono und Obi. Ihre orientalischen Augen lächelten, während ihre Lippen ernst bekundeten, daß es ihnen eine große Freude wäre. Ich fragte, ob sie zu dem Zweck wieder hinauf in die Vereinsetage gehen wollten, aber daran lag ihnen offenbar nichts.
Ich sagte zu Annabeclass="underline" »Sie haben Durst. Sie hätten gern schwachen Tee ohne Milch, ohne Zucker. Es wäre ihnen sehr lieb, wenn Sie den hier unten mit ihnen trinken würden.«
»Ist das alles, was sie gesagt haben?«
»Nicht ganz. In Japan gehört bei manchen Rennveranstaltungen die traditionelle Teezeremonie mit zum Programm. Ich glaube, sie haben Heimweh.«
»Hören Sie«, sagte sie, »Sie würden nicht vielleicht mit mir kommen?«
»Könnte ich mir überlegen. Wo ist die Teestube?«
Wir spürten das gewünschte Getränk auf und führten während des Trinkens ein etwas stockendes
Dreiecksgespräch. Als ich mich danach fürs erste
verabschiedete, sagte Annabeclass="underline" »Warum verbeugen Sie sich mehr vor denen als die vor Ihnen? Das ist unenglisch.«
»Sie sind älter. Sie sind vom Jockey-Club, und wir sind auf einer Rennbahn. Sie beruhigt es, mich entwürdigt es nicht.«
»Ein verrückter Diplomat wie Sie darf mir jederzeit wieder zu Hilfe kommen.«
Ich lächelte sie an und bekam ein lebhaftes Lächeln zurück. Vielversprechend, dachte ich. Sie deutete meinen Gesichtsausdruck richtig, spitzte ihren kleinen Mund und schüttelte den Kopf.
Trotzdem noch vielversprechend.
Sie ging mit ihren Schützlingen auf deren gestikulierte Bitte hin in den Buchmacherring, damit sie die Buchmacher aus nächster Nähe sehen konnten, und ich beobachtete sie von der Tribüne aus, als die Starter zum nächsten Rennen aufgaloppierten. Sie war größer als die beiden Männer, und die Kombination von zwei schwarzen Häuptern und einem blondbraunen Krauskopf war sehr leicht im Auge zu behalten. Sie zogen langsam von einem Buchmacher zum anderen und zeigten auf die mit Kreide an die Tafeln geschriebenen Quoten, bis einer der Männer schließlich Geld hervorholte, das Annabel einem Buchmacher anbot. Die Wette wurde angenommen, der Schein ausgestellt. Das Trio ging in den Tribünenabschnitt hinter den Reihen der Buchmacher und verfolgte das Rennen von dort aus.
Greg und Vicky erschienen an meiner Seite und meinten müde, das sei doch alles sehr interessant, nicht? Ich diagnostizierte einen leichten Anfall von Langeweile, aber Vicky widersprach, es sei nicht Langeweile, sondern der Mangel an Sitzgelegenheiten. Sie hatten im ersten Rennen gewettet und verloren, doch das dritte brachte ihnen immerhin einen Gewinn, den sie, schon weniger deprimiert, abholen gingen.
Von Ken und Belinda sah ich überhaupt nichts, und später erfuhr ich, daß sie die Bahn hinuntergegangen waren, um näher bei den Sprüngen zu sein. Annabel ging mit den Japanern zum Führring, um dort vom Zaun aus zuzuschauen, wie die nächsten Starter herumgeführt wurden, und nicht aus Pflichtgefühl, sondern vielmehr weil ich Lust dazu hatte, gesellte ich mich zu ihnen.
Alle freuten sich, die Männer geradezu überschwenglich: Ich war ihr bester Kumpel im Westen geworden. Sie hofften, ich könnte ihnen sagen, welches der aufgebotenen Pferde das nächste Rennen gewinnen würde, da sie nach dem vorigen ihre Wettscheine hatten zerreißen müssen. Das Tüchtigste überlebt, war wegen meines angenommenen Namens lange Zeit meine Devise gewesen, und so beobachtete ich das Aufgebot und wies auf ein schlankes, glänzendes Kraftpaket, das träge mit gesenktem Haupt im Kreis schritt. Die Japaner verneigten sich dankend und eilten hinüber zu den Buchmachern, die, wie sie sagten, eine Neuheit für sie waren, und Annabel fragte mich, warum ich gerade dieses Pferd herausgepickt hatte.
»Es sieht fit aus«, sagte ich.
»Dann verstehen Sie was von Pferden?«
»Ich wollte einmal Jockey werden.«
Sie sah sich meine Körpergröße an. »Es hat wohl auch schon Jockeys gegeben, die über einsachtzig waren.«
Ich nickte. »Aber man könnte sagen, ich bin auf andere Weise da herausgewachsen.«
»Wie denn?«
»Völliger Mangel an Gelegenheit.«
»Ich war auch eine Ponynärrin«, sagte sie zustimmend, »und eines schönen Tages bestand das Leben nicht mehr nur aus Reiten.«
Sie war ganz in Schwarzweiß: schwarze Stiefel und dünne Beine, karierter Rock, weißer Rolli, schwarze Jacke und ein riesengroßer flaumiger weißer Schal mit schwarzen Troddeln. Manchmal sah sie wie sechzehn aus und manchmal doppelt so alt, und sie wirkte durch und durch kompetent, wenn sie nicht gerade gegen Sprachbarrieren anrannte.
»Leben Sie in London?« fragte ich.
»Fulham Road, wenn man das London nennen kann. Und Sie?«
»Unbehaust.«
Ich bekam einen enttäuschten Blick ab, wie er der Bemerkung angemessen war. »Heißt das, ein Gully am Trafalgar Square?«
»Gibt es irgendwelche guten Gullys in Richtung Fulham?«
Sie antwortete mit einer Miene, die besagte, das sei jetzt genug geplänkelt, und ich dachte bei mir, wenn ich mich nicht bald nach einer Bleibe umsah, würde ein schöner warmer Gully, in den heiße Luft aus unterirdischen Tunnels heraufstieg, durchaus seinen Reiz haben. Während meiner Studentenzeit hatte ich in der Hauptstadt mehr als einmal unbequem geschlafen; jetzt war ich doch wohl zu alt dafür.