»Was für eine Frau?« fragte Vicky denn auch arglos.
»Sie arbeitet für den Jockey-Club«, sagte ich. »Sie begleitet ausländische Gäste bei offiziellen Besuchen. Heute sind es Gäste aus Japan. Ich habe ihr beim Übersetzen geholfen, weiter nichts.«
»Ach so.« Belinda zuckte die Achseln. »Erstaunlich, daß der Jockey-Club jemanden einstellt, der sich so fürs Pferderennen anzieht.«
»Bitte zeigen Sie sie mir mal«, sagte Vicky.
Annabel blieb jedoch bis zum letzten Rennen außer Sicht; danach erst kam sie von oben herunter und steuerte mit ihren Schützlingen auf den Ausgang zu. Sie sah mich dort herumlungern (ich ließ Ken und die anderen bereits warten) und kam zu mir, den kleinen Mund zu einem Grinsen verzogen.
»Ronnie Upjohn ist der Mann da vor uns, der mit der Frau mit der orangen Jacke.« Wir gingen zusammen hinaus auf den Parkplatz, hinter uns die zwei Japaner. »Ich konnte nicht viel mit ihm reden, er kam und ging immerzu, und ich hatte ja unsere Freunde dabei, aber er scheint ziemlich normal zu sein. Dogmatisch natürlich. Er meint, Jockeys können sich alles erlauben, aber wer tut das nicht?«
»Sich alles erlauben, oder denken, daß Jockeys sich alles erlauben können?«
»Ganz wie Sie wollen.«
Wir kamen zu einem großen Wagen mit Chauffeur, der bereitstand, um die sehr bedeutenden Japaner davonzutragen. Ich verbeugte mich zum Abschied vor den beiden Männern, ohne jedoch die entschwindende orange Jacke aus den Augen zu lassen.
»Nichts wie hinterher«, sagte Annabel, »wenn Ihnen so viel daran liegt.«
Ich lächelte ihr in die blauen Augen. »Ich rufe Sie an«, sagte ich.
»Gern.«
Sie stieg hinter ihren Schützlingen ein und zog die Tür zu, und ich eilte unverzüglich der orangefarbenen Jacke nach, so schnell ich konnte, ohne aufzufallen.
Die Jacke hielt bei einem großen grauen Wagen an, und der Mann, Ronnie Upjohn, schloß auf. Dann öffnete er den Kofferraum, nahm Hut, Fernglas und Mantel ab und legte sie hinein. Die ausgezogene Jacke folgte. Ich hatte noch Zeit, heranzukommen und Upjohn deutlich zu sehen, bevor er sich in den Wagen setzte; er glitt jedoch nicht hinter das Steuer, sondern auf den Beifahrersitz. Die orange gekleidete Dame, jetzt in Grau mit Perlen, fuhr.
Ronnie Upjohn war um die Sechzig und im wesentlichen unauffällig. Ich mußte seine Gesichtszüge im Kopf abhaken, wollte ich auch nur eine Chance haben, ihn woanders wiederzuerkennen. Haarfarbe grau. Stirn mittelhoch, zerfurcht. Augenbrauen mittelstark. Augen an den Außenwinkeln leicht verdeckt von schweren Lidern. Nase dick, etwas knollig. Schnurrbart mittelgroß, bräunlich. Mund verkniffen. Kinn ... ich gab es auf. An seinem Kinn war nichts, was man sich merken konnte. Außerdem war er inzwischen eingestiegen und nur noch durch die Scheibe zu sehen.
Ich wandte mich ab und ging quer über den Parkplatz auf Kens Wagen zu, und auf einmal sah ich, daß er mit auf dem Autodach verschränkten Armen dastand und mich verwundert bei meinen Kapriolen beobachtete.
»Wissen Sie, wem Sie da gefolgt sind?« fragte er ungläubig.
»Das war Ronnie Upjohn.«
»Will ich auch hoffen«, sagte ich.
»Aber wieso?«
»Ich wollte den Namen mit einem Gesicht verbinden.« Ich hielt inne. »Was macht er, außer daß er als Steward fungiert?«
»Besitzt ein paar Pferde.« Ken dachte nach. »Er macht irgendwelche Geldgeschäfte. Von einem Büro aus. Ich weiß nicht genau. Er ist halb im Ruhestand, glaube ich. Gut bei Kasse. Geerbtes Geld wahrscheinlich - kommt einem so vor. Allzu gewieft ist er nicht, würde ich sagen.«
»Er tut Ihnen im Augenblick nichts Gutes«, sagte ich.
Ken seufzte. »Das tut keiner.« Er richtete sich auf und schickte sich an einzusteigen. »Und ich habe Belinda regelrecht zur Schnecke gemacht, dabei wußte ich doch nicht mal, wie die Acht heißt, geschweige denn hätte ich gedacht, daß sie gewinnt, und Belinda habe ich damit furchtbar aufgeregt, und jetzt ist sie sauer auf mich.«
Ich schüttelte den Kopf. »Halb so wild. Sie brauchen ihr nur mal das Knie zu tätscheln.«
Ich hatte mich schon daran gewöhnt, daß er mich ansah, als wäre ich übergeschnappt, doch auf der Heimfahrt streichelte er tatsächlich wortlos Belindas Knie, worauf sie in Tränen ausbrach und der Streit beigelegt war.
An diesem Abend, als alle ausgeflogen waren, aß ich einen Schinken-Käse-Toast, trank ein Glas Wein dazu und telefonierte mit meiner Mutter.
Meine Eltern hatten vor langer Zeit ein System entwickelt, wie ich sie von überall auf der Welt anrufen konnte, und das sah im wesentlichen so aus, daß sie bezahlten, wenn ich anrief. Ich brauchte ihnen lediglich die Nummer des Anschlusses durchzugeben, von dem ich sprach, und sie riefen zurück. So entfielen auf mich allenfalls die Gebühren für drei Minuten, auch wenn wir uns vielleicht eine Stunde lang unterhielten. Mein Vater hatte trocken dazu bemerkt, es sei für sie die einzige Möglichkeit, sich zu vergewissern, daß ich noch lebte.
Ich zählte das Geld für drei Minuten nach Mexiko-Stadt ab, legte es in einem Umschlag neben das Telefon in Thetford Cottage und sprach kurz darauf auch schon mit meiner Mutter.
Ich sah sie vor mir am anderen Ende der Leitung, schön wie eh und je. Sie hatte immer schon das besessen, was ich nur als Stil bezeichnen kann, eine angeborene Vornehmheit, die den Übergang von der tüchtigen Sekretärin zur Botschaftergattin logisch und wie eine verdiente Beförderung erscheinen ließ. Ich lauschte mit einem vertrauten Gefühl von Geborgenheit ihrer hellen Stimme, anmutig und sehr jung, alterslos.
»Wynn Lees?« wiederholte sie ungläubig, als sie zurückrief.
»Warum in aller Welt interessierst du dich für Wynn Lees?«
Die Erklärung schluckte einiges von ihrem Geld und belustigte und erschreckte sie zugleich.
»Find ich ja faszinierend, daß du Ken McClure kennengelernt hast, aber du solltest dich wirklich nicht mit Wynn Lees einlassen, Liebling. Der wird sich nicht geändert haben.«
»Gut, aber wieso?« fragte ich. »Was hat er denn so Schreckliches getan?«
»Himmel, das ist alles so lange her.«
»Ja, aber du sagtest mir immer, wenn ich mich nicht besserte, würde ich so werden wie Wynn Lees, als gäbe es kein schlimmeres Los auf Erden, und das einzige, was mir dazu noch im Kopf herumgeht, ist der verschwommene Eindruck, daß er mal im Gefängnis war.«
»Das stimmt allerdings.«
»Tja, und weswegen?«
»Wegen schwerer Mißhandlung von Pferden.«
»Was?« Ich war sprachlos.
»Das erstemal war es wegen Mißhandlung von Pferden. Das ist lange vor deiner Geburt gewesen, als Wynn Lees so etwa zwanzig war. Er und noch ein Jugendlicher haben einem Pferd die Zunge abgeschnitten. Ich glaube, sie haben das ungefähr sechsmal gemacht, bevor sie geschnappt wurden. Ich wußte nichts davon, bis wir nach Cheltenham gezogen sind, und da war Wynn Lees schon über dreißig und hatte noch mal im Gefängnis gesessen, aber diesmal wegen einer Prügelei. Du lieber Himmel, ich habe seit Jahren nicht mehr daran gedacht. Das war ein gräßlicher Mensch. Er kam manchmal ins Büro, denn damals wohnte er noch auf der anderen Seite der Rennbahn. Erst später ist er nach Australien gegangen oder so. Er hat sich regelmäßig über den Grenzzaun beschwert, und ich konnte ihn nicht ausstehen. Er erzählte da was von Maschendraht, und ich mußte immer an die Pferde denken, die gestorben waren, weil man ihnen die Zunge rausgeschnitten hatte. Die Leute meinten, er hätte dafür bezahlt und es sei jugendlicher Übermut gewesen und alles längst Vergangenheit, aber ich glaube, die Leute sind ihre Vergangenheit, und wenn er es mit zwanzig fertiggebracht hat, so etwas zu tun, dann hat er es auch mit fünfzig oder sechzig noch drauf, auch wenn er es jetzt nicht unbedingt tun würde, wenn du verstehst, was ich meine. Wenn er jetzt also wieder in England ist, dann leg dich nicht mit ihm an, Liebling - bloß nicht.«