Er schwieg wieder und blickte mich ernst an. »Ich sage Ihnen jetzt etwas, weil ich versprochen habe, Ihnen alles zu sagen, aber Sie dürfen mich nicht für völlig übergeschnappt halten.«
»Sie sind nicht völlig übergeschnappt«, sagte ich.
»Na gut. Also, man könnte sagen, ich habe über dieses Pferd gegrübelt, habe schwer darüber nachgedacht, wieso seine Sehne sich aufgelöst hat, und es gibt in der Tat etwas, wodurch das geschehen kann.«
»Nämlich?« fragte ich.
»Ein Zeug namens Kollagenase.« Er schluckte. »Wenn man, sagen wir, zwei Kubikzentimeter Kollagenase in eine Sehne injizierte, hätte es diese Wirkung.«
»Und wieso?«
»Es ist ein Enzym, das Kollagen zersetzt, und Sehnen und Bänder bestehen aus Kollagen.«
Ich starrte ihn an. Er starrte angstvoll zurück.
»Sie sind nicht völlig übergeschnappt«, wiederholte ich.
»Aber man kann nicht einfach hingehen und Kollagenase kaufen«, sagte er. »Sie wird von der chemischen Industrie geliefert, findet aber nur in Forschungslaboratorien Verwendung. Es ist ein ziemlich gefährliches Zeug. Es würde auch menschliche Sehnen zersetzen, meine ich. Nichts, wovon man sich eine Dosis ins Handgelenk jagen möchte.«
Jetzt hätte ich selbst beinah Jesses gesagt.
»Man bekommt es gefriergetrocknet, in kleinen Flaschen«, sagte Ken. »Ich habe das nachgelesen. Man löst es in einem Kubikzentimeter Wasser auf. Man braucht nur eine kleine Nadel.«
Jesses noch mal, dachte ich.
»Was halten Sie davon?« fragte er.
Ich hielt es für möglich, daß er in großer Gefahr war, aber ich sagte nur: »Kommen Sie zum nächsten Fall.«
»Vergessen Sie nicht«, sagte er, »daß ich dazwischen zig andere Pferde - Galopper, Hunter und so weiter -behandelt habe, mit denen alles klarging. Auf jedes Pferd, das hier gestorben ist, kommen viele, die ich ohne Zwischenfall operiert habe. Wir kriegen eine ganze Reihe Überweisungen von anderen Tierarztpraxen, und nicht eins davon ist gestorben. Zählt man die Todesfälle so nacheinander auf, hört sich das an, als wäre es Schlag auf Schlag gegangen, am laufenden Band.« »Ich werde daran denken.«
»Okay. Als nächstes starb dann das Pferd draußen in der Beobachtungsbox, von dem ich Ihnen heute morgen erzählt habe.«
Ich nickte. Damit schien das für ihn erledigt zu sein, aber ich fragte: »Wem hat es gehört?«
»Einem Mann namens Fitzwalter. Anständiger Kerl. Hat es gelassen genommen und mir nicht die Schuld gegeben.«
»Und haben Sie da Bedenken, oder glauben Sie, das Pferd ist eines natürlichen Todes gestorben?«
Er seufzte schwer. »Ich hatte dem Pferd Blut abgenommen, um es testen zu lassen, obwohl es eigentlich schon zu lange tot war. Die Ergebnisse waren negativ im Hinblick auf Fremdstoffe.«
Ich musterte sein blasses, besorgtes Gesicht.
»Selbst wenn die Tests negativ waren - haben Sie auch nur einen leisen Verdacht?«
»Es ist mir verdächtig, weil es passiert ist.«
Das mutete unter den Umständen ganz vernünftig an.
»Und gleich darauf kam das zweite Mackintosh-Pferd zu uns, und es starb auf dem OP-Tisch, genau wie das erste.« Er schüttelte den Kopf. »Erst nach dem zweiten dachte ich an Atropin. Weil die Pupillen erweitert waren, verstehen Sie? Ich dachte, das hätte ich beim erstenmal vielleicht übersehen, oder jedenfalls nicht erkannt, was es bedeutet, denn da hatte ich noch keinen Grund, mißtrauisch zu sein.«
»Nein.« Ich seufzte.
»Letzten Donnerstag, am Tag, als Sie gekommen sind, verloren wir dann das Eaglewood-Pferd mit dem Röhr-bein. Auf genau die gleiche Art. Herzschwäche und schlagartig absinkender Blutdruck. Ich habe ihm Blut abgezapft, bevor wir mit der OP anfingen, und Oliver hat weitere Proben genommen, als das Pferd nicht mehr zu retten war, aber darüber werden wir nie Aufschluß erhalten, weil sie bei uns im Labor auf Eis gelegen haben. Ich wollte sie zur Analyse an ein Fachlabor schicken.«
»War irgend etwas bei den beiden MackintoshOperationen anders als bei dem von mir beobachteten Eingriff an der Stute? Außer, daß Sie keinen Darmverschluß gefunden haben, meine ich.«
»Nein, nur daß natürlich Scott und Belinda bei mir waren, nicht Sie. Belinda führt Aufsicht, Scott macht die Narkose. Wir arbeiten immer so.«
»Nur Sie drei?«
»Nicht unbedingt. Einer von den anderen kann dazukommen. Lucy assistiert manchmal bei Ponys. Oliver hilft oft. Ich habe Jay schon bei Kühen und Bullen assistiert. Carey hat allgemein ein Auge auf die Dinge. Er kann alles, wenn es sein muß, behandelt jetzt aber hauptsächlich Kleintiere. Yvonne ist neben all ihren Reizen auch noch eine virtuose Chirurgin, der zuzuschauen eine Freude ist. Ich habe gesehen, wie sie von Autos überrollte Hunde und Katzen zusammengestückt hat wie ein Puzzlespiel. Sogar ein Kaninchen mal, für einen kleinen Jungen. Sie hat ihm das halb abgetrennte Bein unterm Mikroskop angenäht. Später ist es damit wieder herumgehoppelt.« Er hielt inne.
»Die Klinik ist unser ganzer Stolz, müssen Sie wissen. Nicht viele Tierarztpraxen sind so gut eingerichtet. Das hat uns viele Zuweisungen eingebracht.«
»Kommen wir auf den vorigen Donnerstagmorgen zurück«, sagte ich. »Da hatten Sie inzwischen doch vor beinah jeder Operation Bedenken, ja?«
Er nickte stumm.
»Deshalb haben Sie alles doppelt geprüft. Sie hatten Oliver dabei. Sie haben ein Bein operiert, nicht einen Bauch. Gehen Sie das in Gedanken noch mal alles durch, von der Ankunft des Pferdes an. Überspringen Sie nichts. Machen Sie langsam. Ich warte solange. Lassen Sie sich Zeit.«
Er erhob keine Einwände. Ich schaute ihm zu, beobachtete die kleinen Regungen seiner Gesichtsmuskeln, während er in der Erinnerung Schritt für Schritt nachvollzog. Sah, wie er den Kopf schüttelte, seine Stirn runzelte und schließlich verzagt den ganzen Körper bewegte.
»Überhaupt nichts«, platzte er heraus. »Nichts, außer -« Er schwieg unschlüssig, als wäre er von dem, was er dachte, nicht überzeugt.
»Außer was?« fragte ich.
»Nun, Oliver hat den Monitor beobachtet, so wie Sie neulich. Ich habe ab und zu einen Blick drauf geworfen. Ich kann’s nicht beschwören, aber ich meine jetzt, daß die EKG-Kurve - die Linie, die den Herzschlag anzeigt - sich leicht verändert hatte. Ich habe sie mir nicht genauer angesehen. Das hätte ich unter den Umständen vielleicht tun sollen. Allerdings hat sich die Kurve dann natürlich sowieso verändert, weil eben das Herz nicht richtig arbeitete.« Er blickte finster, während er darüber nachdachte. »Ich werde einiges nachschlagen müssen.«
»Hier?« fragte ich und blickte mich in dem leeren Büro um.
»Nein, zu Hause. Meine ganzen Bücher stehen zu Hause. Gott sei Dank. Carey hatte seine alle hier im Büro, damit wir an Ort und Stelle nachschauen konnten, wenn etwas auftauchte, womit wir nicht klarkamen. Was das Feuer nicht zerstört hat, wird das Wasser zerstört haben.« Er schüttelte den Kopf.
»Einige von diesen Büchern sind unersetzbar.«
»Wirklich Pech«, sagte ich.
»Man kann auch nicht sagen, daß die Sorgen vorbei wären.«
»Schon gar nicht, wenn so eine unbekannte Leiche herumliegt.«
Er rieb sich müde mit der Hand übers Gesicht. »Fahren wir nach Thetford Cottage.«
»Okay. Aber Ken .«
»Ja?«
»Bis man herausgefunden hat, wessen Leiche das ist, sollten Sie nicht durch irgendwelche dunklen Straßen laufen.«
Er starrte mich an. Offenbar hatte er sich wegen der Leiche weder Sorgen gemacht noch sie als Mahnung zur Vorsicht aufgefaßt.