Carey kam in seinem weißen Kittel eilends wieder aus dem Container, als hätte er auf diesen Augenblick gewartet, und ließ dem Lieferwagenfahrer alle Wertschätzung zuteil werden, auf die der Mann ein Anrecht zu haben glaubte.
»Gut. Gut. Wunderbar«, sagte er und trat an die Hecktür des Wagens. »Schaffen Sie das alles ins Klinikbüro. Auspacken und verteilen können wir es dann selbst.«
Wie sich herausstellte, brachte der Lieferwagen Ersatz für die beim Brand der Apotheke zerstörten Grundbestände. Das erinnerte mich an den vorangegangenen Morgen im Container, und ich ging zu Carey hin und unterbreitete ihm meinen Vorschlag, wie sich die von der Polizei gewünschte »Verlust«-Liste erstellen ließe.
»Ich dachte mir«, sagte ich schüchtern, »wenn Sie alle Ihre Lieferanten bitten würden, Ihnen Kopien von den Rechnungen etwa der letzten sechs Monate zu schicken, oder welcher Zeitraum Ihnen sonst vernünftig erscheint, dann bekämen Sie doch eine ziemlich genaue Übersicht, den Tages- oder Wochenbedarf natürlich abgerechnet.«
Er sah mich so lange abwesend an, daß ich mich schon fragte, ob er wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, doch dann wurde sein Blick klar und erfaßte die Situation.
»Gute Idee. Ja. Eine Gesamtaufstellung vom Großhändler, dann brauchen wir uns nicht das Hirn zu zermartern. Ich wußte zuerst nicht, was Sie meinten. Ken soll sich darum kümmern, ja?«
Er eilte hinter dem Fahrer her, der stapelweise Kartons in die Klinik brachte, und ich dachte kläglich, daß Ken mir für die Mehrarbeit nicht danken würde. Ich ging ebenfalls ins Büro und fand dort Scott, der den Inhalt jedes eintreffenden Kartons sorgfältig prüfte und ihn auf einem mehrere Seiten langen Lieferschein abhakte.
Oliver Quincys Beitrag zu dieser Aktion war gleich Null. Er warte auf ein Entwurmungspulver, brummte er, ohne das er seinen ersten Hausbesuch heute morgen nicht antreten könne. Sobald es gefunden und abgehakt war, nahm er sich, was er brauchte, und verschwand, wobei Carey seiner Rückansicht einen verwundert-enttäuschten Blick nachsandte.
In diesem Moment kehrte Ken zurück und rauschte hocherfreut über den Medikamentennachschub zur Tür herein.
»Ist das Luftröhrenpferd gekommen?« fragte er.
»Steht draußen in der Box«, nickte Scott.
»Ich dachte, sie würden’s vielleicht abblasen.«
Carey räusperte sich. »Leider hab ich ihm gesagt ... ich meine, ich mußte dem Besitzer versprechen, daß ich, ehm ... mich um den Eingriff kümmern werde.«
Ken fragte: »Heißt das, Sie wollen die Operation selbst vornehmen?«
»Nein. Nein. Nur assistieren.« Seinem Tonfall nach hatte da aber nicht viel gefehlt.
Ken schluckte diese Beleidigung seiner Kunstfertigkeit als weitere bittere Pille in der für ihn zunehmend schwierigen Lage hinunter und bat mich, ebenfalls mit dabeizusein und Protokoll zu führen.
Scott blickte erstaunt, Carey meinte, das sei doch nicht nötig, Ken blieb stur. »In Ordnung?« fragte er mich, und ich sagte: »Ja«, und es war abgemacht.
Lucy Amhurst kam auf der Jagd nach den neuen
Medikamenten herein und nickte mir wohlwollend zu.
»Was macht die Spurensuche?«
»Stein für Stein«, sagte ich. »Das dauert.«
»Was für eine Spurensuche?« fragte Carey.
»Schon vergessen?« sagte Lucy. »Wir haben ihm gestern morgen doch grünes Licht gegeben. Er soll sehen, was er für Ken tun kann. Ach nein«, rief sie aus, »Sie waren ja nicht dabei.« Ich nahm an, daß ihr jetzt gerade die Anti-Carey-Unterhaltung einfiel, denn ihre Wangen röteten sich. »Wir dachten, es könnte nichts schaden, wenn Peter mal sieht, was er herausbekommt, und ob Ken damit zu helfen ist.«
»Nein, das ist prima«, nickte Carey. »Ganz meine Meinung.«
Zu mir sagte er: »Nur weiter. Tun Sie Ihr Bestes. Amateurdetektiv!«
»Er ist Staatsbeamter«, sagte Lucy.
»Ein Schnüffler«, fügte Scott hinzu, den Ausdruck von Jay Jardine übernehmend.
Carey zog belustigt eine Braue hoch, meinte zu mir, der Schimmel sei hoffentlich noch auf Trab, und kehrte zu seinen Hunden und Katzen zurück, indem er Ken bat, ihm Bescheid zu geben, wenn alles für die Operation bereit sei.
»Schimmel?« fragte Scott verständnislos, als er fort war.
»Amtsschimmel«, sagte ich.
»Oh.«
Lucy, die weise Frau, machte den Vorschlag, Ken und Scott sollten die Medikamente an einem sicheren Platz unterbringen, nahm sich dann, was sie selbst davon benötigte, und folgte Carey.
»Schreiben Sie auf, wer was entnimmt?« fragte ich.
»Normalerweise schon«, sagte Ken. »Wir haben ein Buch dafür. Hatten eins.« Er seufzte. »Jeder von uns hat auch einen Vorrat im Auto, wie Sie wissen. Ich könnte nie genau sagen, was da drin ist.«
Er beschloß, alles auf die Regale in einem der Lagerräume zu stellen, da der Arzneischrank zu klein war, und ich half ihm und Scott, die Kartons hinüberzuschaffen und sie systematisch zu ordnen.
Ich hätte gern für eine Stunde Kens ungeteilte Aufmerksamkeit gehabt, bekam sie jedoch nicht. Er setzte sich in den Polsterstuhl und bestand darauf, sich Notizen über das an Hufrehe leidende Hindernispferd zu machen, das er gerade untersucht hatte.
»Komisch«, unterbrach er sich und blickte zu mir auf, »die sagen, gestern war das Pferd noch ganz in Ordnung.«
»Ja, und?« fragte ich.
»Das hat mich an etwas erinnert .« Er brach ab, zog die Stirn kraus und redete langsam weiter. »Durch Sie sehe ich die Dinge jetzt anders.«
Nun mal raus damit, dachte ich, half aber eher behutsam nach.
»Woran hat es Sie erinnert?«
»An ein anderes Springpferd von Nagrebb.«
»Ken.« Etwas von meiner Ungeduld mußte wohl zutage getreten sein, denn er zog die Schultern hoch und sagte, was ihm auf der Seele lag.
»Einer von Nagrebbs Springern hatte Hufrehe ...«
»Was ist denn Hufrehe genau?«
»Eine Entzündung der Huflederhaut, das ist eine Gewebeschicht zwischen der Hufwand und dem Fußknochen. Manchmal flammt sie auf, und die Betroffenen humpeln herum, dann wieder scheinen sie völlig in Ordnung zu sein. Die Krankheit macht sie steif. Führt man das Tier, bewegt man es, dann gibt sich die Steifheit, aber sie kommt immer wieder. Na, jedenfalls hat eins von Nagrebbs Pferden die Rehe gekriegt, und Nagrebb war verärgert, daß ich es nicht kurieren konnte. Eines Tages ließ er mich dann kommen, im vorigen Herbst, und da lag dieser Springer auf der Weide und konnte sich buchstäblich nicht mehr rühren. Nagrebb sagte, er habe das Pferd über Nacht draußen gelassen, da es warm genug war, und es am Morgen in diesem Zustand akuter Rehe vorgefunden. Jetzt waren nicht, wie vorher, nur die beiden Vorderfüße entzündet, sondern alle vier Hufe. Das arme Tier konnte sich wie gesagt einfach nicht mehr bewegen. Ich hatte Nagrebb geraten, ihm nicht zuviel Gras zu geben, da es davon immer schlimmer wird, aber er hatte es trotzdem auf die Weide gelassen. Ich sagte ihm, wir könnten versuchen, das Pferd zu retten, obwohl ihm die Füße regelrecht aus dem Leim gingen und ich auch nicht verhehlte, daß die Prognose sehr schlecht war. Nagrebb beschloß, es von seinem Elend zu erlösen, und rief sofort den Abdecker. Dank Ihnen habe ich jetzt so meine Zweifel ... aber das würde selbst Nagrebb nicht machen ... aber da ist diese Sehne ...«
»Ken!« sagte ich.
»Schon gut. Also, es wäre nämlich recht einfach, einem Pferd Hufrehe anzuhängen.«
»Wie denn?«
»Man braucht lediglich eine Sonde in den Schlund einzuführen und ihm so drei, vier Liter Zuckerlösung in den Magen zu gießen.«
»Was -?«
Er kam der Frage zuvor. »Mehrere Pfund in Wasser gelöster Zucker, dick wie Sirup. Zucker oder sonstige
Kohlehydrate in großer Menge würden innerhalb weniger Stunden zu einer sehr schweren Hufrehe führen.«
Gott, dachte ich. Endlos, die möglichen Schurkereien.