»Die Todesfälle im OP wurden also sehr wahrscheinlich alle vorsätzlich herbeigeführt, und es ist Ihre Sache, herauszufinden, warum.«
»Aber ich weiß es doch nicht.« Seine Verzweiflung kam wieder durch. »Wenn ich’s wüßte, säße ich ja nicht so in der Klemme.«
»Ich glaube, in irgendeinem dunklen Winkel wissen Sie es wahrscheinlich doch. Ich bin voller Zuversicht, daß demnächst ein blendendes Licht in Ihrem Kopf angehen und all das mit Sinn erfüllen wird.«
»Aber ich überlege doch andauernd.«
»Mhm. Dafür ist die dritte Spalte da.«
»Nein.«
»Es muß so sein«, sagte ich. »Besitzt von Lees, Eaglewood, Mackintosh, Fitzwalter oder Nagrebb irgendeiner die Kenntnisse, um das alles zu bewerkstelligen? Hat einer von ihnen die Gelegenheit gehabt?«
Er schüttelte stumm den Kopf.
»Die Kenntnisse«, sagte ich, »sind tierärztlicher Art.«
»Jetzt aber Schluß damit.«
»Es ist in Ihrem eigenen Interesse«, sagte ich.
»Aber das sind doch meine Freunde. Meine Partner.«
Partner waren nicht unbedingt Freunde, dachte ich. Er sperrte sich immer noch gegen diese Einsicht: ein recht verbreiteter Reflex, der einem in Botschaften fortwährend begegnete.
Ich wollte ihn weder gegen mich aufbringen noch ihn zu destruktiver Selbstanalyse treiben. Es brauchte Zeit bei ihm. Meiner Erfahrung nach stellten Einsicht und Erkenntnis sich oft in kleinen Schritten ein, mit kleinen Durchblicken, kleinen unverhofften »Aha«-Erlebnissen. Was Kens Probleme anging, war ich von dem »Aha«-Stadium noch weit entfernt. Ich hoffte, wir würden es vielleicht zusammen erreichen.
»Übrigens«, sagte ich, »wissen Sie von der Arzneimittelliste, die die Polizei haben will?«
Er nickte.
»Carey meint, dafür wäre es ganz gut, bei Ihren Lieferanten Kopien von den Rechnungen der letzten sechs oder auch mehr Monate anzufordern. Ich soll Sie fragen, ob Sie das übernehmen würden.«
Wie vorauszusehen, stöhnte er. »Das kann doch eine Sekretärin machen.«
»Ich dachte nur«, sagte ich schüchtern, »wenn Sie es selber machen, dann könnten Sie die Rechnungen sich persönlich zuschicken lassen.«
»Wozu denn?«
»Hm . mal angenommen, daß zum Beispiel . « Ich pirschte mich langsam heran. »Mal angenommen, hier hat jemand so etwas bestellt wie ... Kollagenase.«
Die hellen Augen starrten mich an, als würden sie nie wieder blinzeln. Nach einer langen Pause sagte er: »Das liefert unser üblicher Grossist nicht. Man müßte es bei einem Chemiewerk bestellen, das Stoffe vertreibt, die nur für den Laborgebrauch bestimmt sind.«
»Steht Ihr Labor hier mit solchen Firmen in Geschäftsverbindung?«
»Na ja, schon.«
Stille machte sich breit.
Er seufzte schwer. »Also gut«, sagte er schließlich. »Ich schreibe sie an. Ich werde alle anschreiben, die mir einfallen. Hoffentlich antworten sie alle negativ. Bestimmt tun sie das.«
»Sehr wahrscheinlich«, stimmte ich zu und dachte, hoffentlich nicht.
Die Nachmittagsoperation, der Carey müde, aber wachsam beiwohnte, während ich wieder Protokoll führte, verlief ohne Zwischenfälle. Je besser ich mit der allgemeinen OP-Routine vertraut wurde, desto mehr beeindruckte mich Ken in Aktion: Seine langfingerigen Hände waren ruhig und geschickt, sein ganzer seltsam gelenkiger Körper, von dem man eher vielleicht schlaksige Unbeholfenheit erwartet hätte, funktionierte mit sparsamer Eleganz. Seine Selbstzweifel schienen jedesmal zu verfliegen, sobald er ein Skalpell in der Hand hielt, und eigentlich war das wohl auch vorauszusehen, denn die Zweifel wurden ihm von außen aufgedrängt, sie kamen nicht von innen.
Er schloß den Einschnitt mit einer sauberen Reihe von Klammern, und wieder hievte der Kran den großen schlaffen Körper an den Füßen hoch, um ihn in den gepolsterten
Ruheraum zu befördern. Alle gingen hinterher und warteten, geschützt durch die brusthohe Trennwand, bis sich der Patient schwankend und auskeilend aus seiner Bewußtlosigkeit hochrappelte und in dumpfer Verwirrung, zweifellos noch angeschlagen, stehen blieb.
»Gut. Gut«, sagte Carey wieder, seufzte aber dennoch. »Dem fehlt nichts.«
Er sah immer noch übermüdet aus, dachte ich, immer noch grau. Er schien von unregelmäßigen Energieschüben in Gang gehalten zu werden, nicht wie Scott von einem unerschöpflichen Stehvermögen.
Wie um meinen Eindruck zu bestätigen, rieb er sich mit der Hand über Gesicht und Hals, um die Verspannungen dort zu lösen, und sagte: »Ich habe Lucy gebeten, meine Bereitschaft zu übernehmen. Heute nacht sind also Lucy und Jay dran. Hoffentlich wird’s ruhig. Ich fahre nach Hause.«
Ken und ich gingen mit ihm ins Büro, wo er die überweisenden Ärzte anrief und ihnen mitteilte, daß ihr Pferd sich normal erholte. Er sagte das, als wäre es ganz selbstverständlich; nichts in seinem Tonfall deutete auf übermäßige Erleichterung. Oliver Quincy, der sich den ganzen Nachmittag Notizen gemacht hatte, während er den Monitor überwachte, um den Patienten vom Vormittag im Auge zu behalten, meinte verdrießlich, es sei an der Zeit, daß man ihn ablöse.
»Jay hat mich bequatscht«, protestierte er, »aber das hier ist nicht meine Aufgabe. Dafür sind Scott und Belinda da.«
»Wir müssen alle mit anpacken.« Carey sah da keine Schwierigkeit. »Wo ist Jay jetzt?«
»Er bedient sich aus dem neuen Medikamentenvorrat. Yvonne und Lucy waren auch schon da. Ich hab sie aufschreiben lassen, was sie mitgenommen haben.« »Gut. Gut«, sagte Carey.
Oliver warf ihm einen unfreundlichen Blick zu, den er aber nicht bemerkte, und sagte, da er auf dem Heimweg noch zwei Besuche zu machen habe, sei es am besten, er breche jetzt auf. Jay streckte kurz den Kopf zur Tür herein, um in etwa das gleiche zu vermelden, und sie gingen gemeinsam weg, zwei, die zusammenhielten wie Pech und Schwefel.
Ken begann seinen Bericht abzufassen, der das von mir geführte Protokoll ergänzen sollte, und durchs Fenster sah ich, wie Carey zu seinem Wagen ging und davonfuhr. Ich benutzte noch einmal das Telefon und rief Vicky an, um ihr zu sagen, daß ich nach London fuhr und daß sie nicht erschrecken sollte, wenn sie mich am frühen Morgen oder noch später zurückkommen hörte. Vielen Dank, mein Lieber, sagte sie. Sie klang gelangweilt, fand ich.
Ken blickte von seinem Bericht auf. »Jeder, wie er mag«, sagte er.
»Nun, Sie haben Ihr Glück direkt vor der Tür.«
Er grinste. »Ist Annabel das Mädchen aus Stratford?«
»Ja.«
»Sie vergeuden keine Zeit.«
»Es handelt sich nur um eine Erkundung.«
»Wissen Sie«, sagte er unerwartet, »ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie sich mal betrinken.«
»Geben Sie sich mehr Mühe.«
Er schüttelte freundlich-abschätzend den Kopf. »Sie würden nicht derart die Kontrolle verlieren wollen.«
Ich fühlte mich ertappt, und das nicht nur, weil er recht hatte.
»Sie kennen mich erst seit Donnerstag«, sagte ich, seine eigenen Vorbehalte wiederholend.
»Im Prinzip habe ich Sie nach einer halben Stunde gekannt.«
Er zögerte. »Schon komisch. Vicky hat mir dasselbe gesagt.«
»Ja«, meinte ich. »Ein offenes Buch.« Ich lächelte und schickte mich an zu gehen. »Bis morgen.«
»Bis dann.«
Ich verließ die Klinik und ging über den Parkplatz zum Wagen. Für das geplante Treffen war es noch sehr früh: Ich würde Zeit haben, Wohnungsinserate zu studieren. Ich würde lernen, wie schwierig es war, eine Bleibe zu finden, und wie teuer.
Belinda kam aus der Klinik und ging kurz in die Beobachtungsbox, um sie für den Neuzugang herzurichten. Sie ließ die erste Tür weit offen, warf einen Blick in die nächste Box, wo der Patient vom Morgen stand, und ging dann weiter, um sich routinemäßig auch noch die Stute anzusehen. Ich betrachtete ihre schlanke, tüchtige Gestalt und fragte mich, ob ihre fürsorglichen Neigungen sich mit der Zeit, oder wenn sie erst einmal Kinder hatte, ändern würden. Manche Pflegebediensteten wurden in der Ausübung ihres Berufs eher sanft, andere hart. Noch war alles offen, dachte ich.