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„Ich habe dich überall gesucht. Warum bist du nie da, wo ich dich finden kann? O Ellie“, flüsterte die Mutter, „etwas Furchtbares ist passiert.“

In der siebten Klasse nahmen sie „Pi“ durch. Das war ein griechischer Buchstabe, der aussah wie die Architektur von Stonehenge in England: zwei senkrechte Pfeiler mit einem Querbalken oben drauf — n. Wenn man den Umfang eines Kreises maß und durch den Durchmesser des Kreises teilte, dann erhielt man Pi. Zu Hause nahm Ellie den Deckel eines Mayonnaiseglases, wickelte eine Schnur darum, legte dann die Schnur der Länge nach hin und maß mit einem Lineal den Kreisumfang. Dasselbe machte sie mit dem Durchmesser, und ohne zu kürzen teilte sie die eine Zahl durch die andere. Sie bekam 3,21 heraus. Das schien ja recht einfach zu sein. Am nächsten Tag erklärte der Lehrer, Mr. Weisbrod, daß p ungefähr 3,1416 betrug. Aber wenn man ganz genau sein wollte, setzten sich die Dezimalen endlos fort, ohne daß sich eine bestimmte Zahlenkombination wiederholte. Endlos, dachte Ellie. Sie hob die Hand. Das Schuljahr hatte gerade erst begonnen, und sie hatte bisher im Mathematikunterricht noch keine einzige Frage gestellt. „Woher weiß man, daß die Zahlen hinter dem Komma endlos weitergehen?“

„Das ist einfach so“, erwiderte der Lehrer streng. „Aber warum? Woher weiß man das? Wie kann man denn die Zahlen hinter dem Komma ewig weiterzählen?“

„Miß Arroway“, sagte er mit einem Blick auf den Klassenspiegel, „das ist eine dumme Frage. Sie vergeuden unsere Zeit.“

Nie zuvor hatte jemand Ellie als dumm bezeichnet. Sie brach in Tränen aus. Billy Horstman, der neben ihr saß, streckte vorsichtig seine Hand aus und legte sie auf ihre. Sein Vater war erst vor kurzem angeklagt worden, die Kilometerzähler der Gebrauchtwagen, die er verkaufte, zu frisieren, deshalb wußte Billy, was öffentliche Demütigung bedeutete. Ellie rannte schluchzend aus dem Klassenzimmer. Nach der Schule radelte sie zur Bibliothek des nahegelegenen College, um sich Bücher über Mathematik anzusehen. Soweit sie aus dem Gelesenen schließen konnte, war ihre Frage gar nicht so dumm gewesen. Die alten Hebräer hatten — so die Bibel — offensichtlich geglaubt, daß p exakt drei entsprach. Auch Griechen und Römer, die viel von Mathematik verstanden, hatten keine Ahnung, daß sich bei p die Zahlenstellen ewig fortsetzten, ohne sich zu wiederholen. Dieses Faktum war erst vor ungefähr 250 Jahren entdeckt worden. Wie konnte man von ihr erwarten, das zu wissen, wenn sie keine Fragen stellen durfte? Aber bei den ersten Stellen nach dem Komma hatte Mr. Weisbrod recht gehabt. Pi war nicht 3,21. Vielleicht war der Deckel des Mayonnaiseglases ein bißchen eingedrückt gewesen, so daß es kein vollkommener Kreis gewesen war. Oder sie hatte die Schnur ungenau gemessen. Aber selbst wenn sie noch viel sorgfältiger gewesen wäre, konnte man doch nicht von ihr erwarten, daß sie eine unendliche Anzahl von Dezimalstellen hinter dem Komma messen konnte.

Man konnte Pi allerdings auch noch anders finden: Berechnen konnte man Pi so exakt, wie man wollte. Wenn man etwas von Infinitesimalrechnung verstand, konnte man Formeln für Pi entwickeln, mit denen man es bis auf so viele Dezimalstellen berechnen konnte, wie man Zeit darauf verwandte. In einem der Bücher standen Formeln für die Berechnung von Pi dividiert durch vier. Mit einem Teil dieser Formeln konnte Ellie überhaupt nichts anfangen. Von anderen wiederum war sie fasziniert. Eifrig probierte Ellie die Formeln aus, indem sie die Brüche im Wechsel addierte und subtrahierte. Exakt konnte man es nie berechnen, aber wenn man sehr geduldig war, kam man so nah daran heran, wie man wollte. Es erschien Ellie wie ein Wunder, daß jeder Kreis auf der Welt mit dieser Reihe von Brüchen in Verbindung stand. Wie konnten Kreise nur wissen, daß es solche Brüche gab? Sie war entschlossen, sich die Infinitesimalrechnung beizubringen.

In dem Buch stand noch etwas anderes: p wurde als „transzendente“ Zahl bezeichnet. Es gab für p keine Gleichung aus gewöhnlichen Zahlen, die nicht unendlich lang war. Ellie hatte sich selbst schon etwas Algebra beigebracht und verstand deshalb, was das bedeutete. Und p war nicht die einzige transzendente Zahl. In Wirklichkeit gab es unendlich viele transzendente Zahlen, ja, sogar unendlich mehr transzendente als gewöhnliche Zahlen, selbst wenn p die einzige war, von der sie je gehört hatte. Damit war p in mehr als einer Hinsicht mit der Unendlichkeit verknüpft. Ellie hatte einen Blick auf ein Gebiet ehrfurchtgebietender Dimensionen geworfen. Versteckt zwischen all den gewöhnlichen Zahlen gab es unendlich viele transzendente Zahlen, deren Vorhandensein man niemals vermutet hätte, wenn man nicht einen tiefen Blick in die Mathematik tat. Hin und wieder tauchte eine von ihnen, wie p zum Beispiel, ganz unerwartet im alltäglichen Leben auf. Aber die meisten — unendlich viele, wie sie jetzt wußte — versteckten sich, kümmerten sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten und waren mit ziemlicher Sicherheit dem so leicht erregbaren Mr. Weisbrod völlig unbekannt.

Ellie durchschaute John Staughton von Anfang an. Wie ihre Mutter auch nur hatte daran denken können, ihn zu heiraten, war ihr ein unergründliches Rätsel — was nichts damit zu tun hatte, daß ihr Vater erst zwei Jahre tot war. Zwar sah John Staughton ganz gut aus, und wenn er sich Mühe gab, konnte er auch so tun, als ob er sich etwas aus anderen Menschen machte. Aber er nützte die Menschen aus. Übers Wochenende ließ er seine Studenten kommen, damit sie im Garten des neuen Hauses, in das sie gezogen waren, Unkraut jäteten und andere Arbeiten verrichteten. Und wenn sie gegangen waren, machte er sich über sie lustig. Ellie, die gerade auf die High School gekommen war, riet er, sich bloß ja von seinen gescheiten jungen Männern fernzuhalten. Er war ein aufgeblasener und eingebildeter Wichtigtuer. Ellie war überzeugt, daß er als Professor ihren verstorbenen Vater heimlich verachtete, weil der nur ein kleiner Ladenbesitzer gewesen war. Staughton hatte ihr ganz klar gesagt, daß es für ein Mädchen nicht in Frage komme, sich für Radios und Elektrotechnik zu interessieren, daß sie damit keinen Mann bekäme und daß es überhaupt dumm und abwegig von ihr sei, Physik verstehen zu wollen. „Anmaßend“ nannte er das.

Dazu fehlten ihr die Fähigkeiten. Das sei eine objektive Tatsache, mit der sie sich ebensogut abfinden könne. Er sage ihr das nur zu ihrem Besten. Sie werde ihm später noch dankbar dafür sein. Schließlich sei er Professor für Physik. Und er wisse, was dazu gehöre. Solche Moralpredigten machten Ellie wütend, obwohl sie bis zu dieser Zeit noch nie daran gedacht hatte, eine naturwissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen, auch wenn ihr Staughton das nicht glauben wollte.

Er war nicht sanft, wie ihr Vater gewesen war, und hatte auch überhaupt keinen Sinn für Humor. Wenn sie jemand für Staughtons Tochter hielt, wurde sie furchtbar wütend. Weder ihre Mutter noch ihr Stiefvater schlugen ihr je vor, den Namen Staughton anzunehmen. Sie wußten, was sie darauf geantwortet hätte.

Nur gelegentlich zeigte der Mann ein wenig Wärme. Zum Beispiel, als er ihr nach ihrer Mandeloperation ein wunderschönes Kaleidoskop mit ins Krankenhaus brachte. „Wann werde ich operiert?“, hatte Ellie ihn ein wenig schläfrig gefragt.

„Es ist schon alles vorbei“, hatte Staughton geantwortet. „Bald bist du wieder gesund.“ Ellie fand es sehr beunruhigend, daß man ihr ganze Zeitabschnitte rauben konnte, ohne daß sie es merkte, und sie gab ihm die Schuld daran. Schon damals war ihr klar, daß das eigentlich kindisch war. Daß ihre Mutter ihn wahrhaft lieben konnte, war ihr unbegreiflich. Sicher hatte sie sich aus Einsamkeit und Schwäche wieder verheiratet. Sie brauchte einfach jemand, der sich um sie kümmerte. Ellie schwor, sich niemals in eine solche Abhängigkeit zu begeben. Ihr Vater war tot, ihre Mutter war ihr fremd geworden, und sie selbst fühlte sich verbannt in das Haus eines Tyrannen. Da war niemand mehr, der sie sein Mädchen nannte.

Ellie wünschte sich nichts sehnlicher, als dem allen zu entfliehen.

„‚Bridgeport?’ sagte ich.“