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Cambridge in Massachusetts war weit genug weg, um John Staughtons Einfluß zu entkommen, und nah genug, um die Mutter in den Ferien besuchen zu können. Für die Mutter war es nicht leicht, aber sie brauchte so wenigstens nicht ganz auf die Tochter zu verzichten, und ihr Mann wurde durch die ständigen Auseinandersetzungen nicht noch mehr verärgert. Ellie war von sich selbst überrascht, als sie Harvard dem Massachusetts Institute of Technology vorzog. Wenig später traf sie zur Orientierungswoche in Harvard ein: Eine hübsche, dunkelhaarige junge Frau mittlerer Größe mit einem schiefen Lächeln und dem festen Vorsatz, alles zu lernen, was es zu lernen gab. Um ihren Horizont zu erweitern, belegte Ellie neben ihren Hauptinteressengebieten Mathematik, Physik und Technik noch möglichst viele andere Seminare. Aber gerade in ihren Lieblingsgebieten hatte Ellie immer wieder dasselbe Problem: Es war schwierig, mit ihren überwiegend männlichen Kommilitonen über Physik zu diskutieren oder gar zu streiten. Am Anfang ignorierten sie einfach alle Äußerungen Ellies. Nach einer kurzen Pause machten sie dann weiter, als ob sie nichts gesagt hätte. Hin und wieder nahmen sie ihre Bemerkungen auch zur Kenntnis, lobten sie sogar, beachteten sie dann aber nicht weiter. Ellie war sich ziemlich sicher, daß ihre Äußerungen nicht so dumm waren, und sie wollte nicht übergangen werden, schon gar nicht abwechselnd übergangen und dann wieder gönnerhaft angehört werden. Sie wußte, daß es zum Teil — allerdings nur zum Teil — an ihrer sanften Stimme lag. Deshalb trainierte sie sich eine professionell klingende Naturwissenschaftlerstimme an: hart, kompetent und einige Dezibel über ihrer normalen Stimmlage. Mit dieser Stimme war es natürlich wichtig, daß man recht hatte. Sie mußte ihre Auftritte gezielt auswählen. Es fiel ihr allerdings schwer, lange so zu sprechen, weil sie manchmal das Lachen kaum unterdrücken konnte. Sie fand heraus, daß kurze, scharfe Einwürfe ihr am besten lagen und meist ausreichten, die Aufmerksamkeit der anderen Studenten auf sich zu lenken, um dann eine Weile in normaler Stimmlage weiterreden zu können. In jedem Seminar begann dieser Kampf von neuem, nur damit sie in der Diskussion dann auch gehört wurde. Keiner der Jungen hatte auch nur eine Ahnung davon, welchem Problem sie gegenüberstand. Manchmal sagte ein Dozent in einer Laborübung oder einem Seminar „Meine Herren, machen wir weiter“, und wenn er dann Ellies gerunzelte Stirn bemerkte, fügte er hinzu: „Entschuldigen Sie,

Miß Arroway, aber Sie sind für mich wie ein Junge.“ Das war das höchste Kompliment, zu dem die Männer fähig waren: Daß sie in ihren Augen keine typische Frau war.

Ellie mußte sich immer wieder zusammenreißen, damit sie nicht ganz ihrer Kampfeslust erlag oder überhaupt zum Menschenfeind wurde. Manchmal wurde sie plötzlich nachdenklich. Ein Menschenfeind, ein „Misanthrop“, war jemand, der alle Menschen haßte, nicht nur Männer. Und natürlich gab es auch ein eigenes Wort für einen Frauenfeind: „Misogyn“. Aber die Lexikographen hatten versäumt, auch ein Wort für die Abneigung gegen Männer zu schaffen. Wahrscheinlich waren die Lexikographen fast alle selber Männer und konnten sich deshalb auch nicht vorstellen, daß es Bedarf für so ein Wort gab.

Mehr als die meisten ihrer Kommilitonen war sie zu Hause durch Vorschriften und Verbote eingeengt worden. Die frisch errungene Freiheit fand sie deshalb aufregend. Zu einer Zeit, in der sich viele ihrer Altersgenossen bewußt nachlässig kleideten und so den Unterschied zwischen den Geschlechtern verwischten, bemühte sie sich um schlichte Eleganz in Kleidung und Make-up, was ihr begrenztes Budget ziemlich strapazierte. Freilich wußte sie, daß es wirkungsvollere Möglichkeiten gab, sich politisch zu äußern. Sie pflegte einige enge Freundschaften und machte sich ab und zu auch Feinde, die sie wegen ihrer Kleidung, ihrer politischen und religiösen Ansichten oder wegen des Nachdrucks, mit dem sie ihre Meinungen vertrat, nicht mochten. Ihr Sachverstand und ihre Begeisterung in den Naturwissenschaften waren in den Augen vieler durchaus intelligenter junger Frauen schwerwiegende Mängel. Nur einige wenige sahen in ihr das, was Mathematiker einen Existenzbeweis nennen, nämlich einen Beweis dafür, daß sich eine Frau tatsächlich in den Naturwissenschaften auszeichnen konnte; und, für manche war sie sogar Vorbild für ein neues Rollenverständnis.

Auf dem Höhepunkt der sexuellen Revolution nahm sie mit wachsendem Vergnügen die neuen Freiheiten für sich in Anspruch, spürte aber, daß sie auf ihre Liebhaber einschüchternd wirkte. Ihre Beziehungen dauerten meist nur ein paar Monate. Sie spürte, daß sie das nur ändern konnte, wenn sie ihre Interessen versteckte und ihre Meinungen unterdrückte. Und dagegen hatte sie sich schon in der High School entschieden gewehrt. Das Bild ihrer zu einem resignierten, nur noch auf Harmonisierung ausgerichteten Gefangenendasein verurteilten Mutter verfolgte sie. Sie fing an, auf Männer neugierig zu werden, die nichts mit dem akademischen bzw. naturwissenschaftlichen Betrieb zu tun hatten. Manche Frauen schienen völlig arglos zu sein und gaben sich den Männern hin, ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken. Andere wiederum begaben sich auf einen mit aller erdenklichen Kriegslist und Strategie ausgeklügelten Feldzug, in dem alle Eventualitäten und Rückzugsmöglichkeiten einkalkuliert waren, mit dem einzigen Ziel, sich zuletzt einen begehrenswerten Mann zu angeln. Schon das Wort „begehrenswert“ entlarvte sie. So ein armer Tropf wurde nicht wirklich begehrt, sondern er war nur „begehrenswert“ — ein lohnendes Objekt gerade auch in den Augen der anderen, für die das ganze traurige Verstellungsspiel inszeniert wurde. Die meisten Frauen lagen für Ellie irgendwo zwischen diesen Extremen. Sie versuchten, ihre Leidenschaft mit den absehbaren langfristigen Vorteilen in Einklang zu bringen. Vielleicht gab es ja ab und zu Verbindungen zwischen Liebe und Vorteil, die der Aufmerksamkeit entgingen. Aber die Vorstellung, jemand nach einem berechneten Plan zu verführen, ließ Ellie frösteln.

In Sachen Liebe wollte sie sich bedingungslos zum Element des Spontanen bekennen. Damals lernte sie Jesse kennen.

Ein Bekannter hatte sie zum ersten Mal in die Kellerbar beim Kenmore Square mitgenommen. Jesse sang Bluegrass und spielte Gitarre. Die Art, wie er sang und sich bewegte, machte Ellie bewußt, was sie bisher vermißt hatte. Am nächsten Abend kam sie allein. Sie setzte sich an den Tisch neben der Bühne und sah ihm bei beiden Auftritten die ganze Zeit in die Augen. Zwei Monate später zogen sie zusammen. Nur wenn Jesse zu Auftritten nach Hartford oder Bangor mußte, fand sie noch Zeit zur Arbeit. Dann verbrachte sie den ganzen Tag mit den anderen Studenten. Mit Studenten, denen die neuesten Rechenschiebermodelle wie Trophäen am Gürtel baumelten; denen Kulihalter aus Plastik in der Brusttasche steckten; die überkorrekt und eingebildet waren, nervös lachten und jede Minute hart daran arbeiteten, Wissenschaftler zu werden. Sie waren so sehr davon in Anspruch genommen, die letzten Tiefen der Natur zu ergründen, daß sie bei all ihrem Wissen alltäglichen menschlichen Angelegenheiten fast hilflos ausgeliefert waren und dabei einen bemitleidenswerten und naiven Eindruck machten. Vielleicht forderten der Dienst an der Wissenschaft und der Konkurrenzdruck so viel Kraft, daß ihnen keine Zeit blieb, zu einer abgerundeten Persönlichkeit zu wachsen. Oder vielleicht hatten diese Studenten sich gerade wegen ihrer Unfähigkeit zu zwischenmenschlichen Kontakten Gebieten zugewandt, wo dieser Mangel nicht so auffiel. Außer für wissenschaftliche Diskussionen, fand Ellie, waren sie keine gute Gesellschaft.