Vielleicht hatte man sich für die Insel Hokkaido entschieden, weil sie abgeschieden war. Die klimatischen Bedingungen erforderten Konstruktionstechniken, die für japanische Verhältnisse ungewöhnlich waren. Außerdem war hier die Heimat der Ainu, der behaarten Ureinwohner, die noch immer von vielen Japanern verachtet wurden. Die Winter waren hier genauso streng wie in Minnesota oder Wyoming. Hokkaido hatte gewisse organisatorische Nachteile, aber für den Fall einer Katastrophe lag die Insel günstig, weil sie vom japanischen Festland getrennt war. Dennoch war man keineswegs isoliert, seit der einundfünfzig Kilometer lange Tunnel fertiggestellt worden war, der Hokkaido mit der Hauptinsel Honshu verband. Es war der längste Unterwassertunnel der Welt.
Hokkaido hatte für die Tests der Bauelemente genügend Sicherheit geboten. Aber gegen den Zusammenbau der gesamten Maschine an diesem Ort hatte man Bedenken erhoben. In der Umgebung — davon legten die Berge rund um die Fabrikanlagen ein beredtes Zeugnis ab — gab es noch viele aktive Vulkane. Einer der Vulkane wuchs täglich um etwa einen Meter. Selbst die Sowjetunion, deren Insel Sachalin nur dreiundvierzig Kilometer entfernt auf der anderen Seite der La- Perouse-Straße lag, hatte in diesem Punkt Vorbehalte angemeldet. Aber das Risiko blieb letztlich überall das gleiche. Denn allen war klar, daß auch eine Maschine, die auf der Rückseite des Mondes gebaut wurde, die Erde in die Luft jagen konnte, wenn sie in Gang gesetzt wurde. Die Entscheidung für den Bau der Maschine war der ausschlaggebende Punkt, der das Risiko bedeutete. Wo das Ding dann gebaut wurde, war dann bereits eine völlig nebensächliche Frage.
Anfang Juli nahm die Maschine wieder konkrete Gestalt an. Amerika war nach wie vor in politische und religiöse Auseinandersetzungen verwickelt. Bei der sowjetischen Maschine hatte man offenbar mit ernsthaften technischen Problemen zu kämpfen. Aber hier in Hokkaido, wo nur eine im Vergleich zu Wyoming bescheidene Anlage zur Verfügung stand, waren die Dübel eingesetzt und das Dodekaeder fertiggestellt worden, obwohl dies nie an die Öffentlichkeit gedrungen war. Die alten Pythagoräer, die das Dodekaeder zuerst entdeckt hatten, hatten seine Existenz geheim gehalten. Für den Verrat des Geheimnisses wurden harte Strafen angedroht. Deshalb war es vielleicht auch nur angemessen, wenn von diesem Dodekaeder von der Größe eines Hauses, das 2600 Jahre später auf der anderen Seite der Erde gebaut wurde, ebenfalls fast niemand wußte.
Der japanische Projektleiter hatte allen Mitarbeitern einige Tage Ruhe verordnet. Die nächste größere Stadt war Obihiro, ein schöner Ort am Zusammenfluß des Yubetsu und Tokachi. Einige fuhren in die Berge und rutschten mit ihren Skiern über den letzten Schnee auf dem Asahi. Andere stauten mit einem behelfsmäßigen Steinwall Thermalquellen auf und wärmten sich am Zerfall der radioaktiven Elemente, die bei Supernovaexplosionen vor Millarden von Jahren entstanden waren. Wieder andere Mitarbeiter des Projekts gingen zu einem Bamba-Rennen, bei dem kräftige Zugpferde schwer beladene Schlitten über parallel verlaufende Ackerstreifen zogen. Um jedoch richtige Abwechslung zu haben, flogen Ellie und die anderen vier Mitglieder der Besatzung im Hubschrauber nach Sapporo, der größten Stadt auf Hokkaido, die weniger als 200 Kilometer entfernt lag. Sie hatten Glück, denn sie kamen gerade rechtzeitig zur Eröffnung des Tanabata- Festes. Ein persönliches Sicherheitsrisiko bestand nach allgemeiner Einschätzung nicht für die Gruppe der fünf Wissenschaftler, da nicht sie, sondern die Maschine für den Erfolg des Unternehmens entscheidend war. Sie waren keinem Spezialtraining unterzogen worden, wenn man einmal davon absah, daß sie die BOTSCHAFT, die Maschine und die auf Miniaturgröße verkleinerten Instrumente, die sie bei sich tragen würden, genauestens studiert hatten. In einer rational ausgerichteten Welt, dachte Ellie, war der einzelne Mensch leicht zu ersetzen. Obwohl die politischen Schwierigkeiten, fünf Leute auszuwählen, die allen Mitgliedern des Weltkonsortiums zusagten, erheblich gewesen waren.
Xi und Waygay hatten noch, wie sie sich ausdrückten, „unerledigte Geschäfte“, die nur bei einigen Gläsern Reiswein aus der Welt geschafft werden konnten. So ließ sich Ellie zusammen mit Devi Sukhavati und Abonneba Eda von ihren japanischen Gastgebern durch die vom Boulevard Odori abzweigenden Nebenstraßen führen. Sie schlenderten an kunstvoll gefertigten Papierschlangen vorbei, an Laternen, Bildern aus Blättern, an Schildkröten, märchenhaften Ungeheuern und dekorativen Darstellungen junger Männer und Frauen in mittelalterlichen Kostümen. Zwischen zwei Gebäuden war ein großes Segeltuch gespannt, auf das ein Pfau mit erhobener Klaue gemalt war.
Ellie schaute Eda an, der ein wallendes, besticktes Leinengewand und eine hohe, steife Kappe trug, und Devi, die schon wieder einen neuen, wunderschönen Seidensari anhatte. Sie fühlte sich großartig in ihrer Begleitung. Die japanische Maschine hatte soweit alle vorgeschriebenen Tests bestanden. Und es hatte sich eine Mannschaft zusammengefunden, die nicht nur repräsentativ — wenn auch unvollkommen — für die gesamte Erdbevölkerung war, sondern auch aus wirklichen Persönlichkeiten bestand, die nicht dem Klischee offizieller Funktionäre entsprachen. Jeder von ihnen war in gewisser Hinsicht ein rebellischer Einzelgänger. Zum Beispiel Eda. Das war also der große Physiker, der Entdecker der sogenannten Weltformel, einer brillanten Theorie, die alle physikalischen Einzelphänomene von der Gravitation bis zu den Quarks einschloß. Diese wissenschaftliche Leistung war nur mit denen Isaac Newtons und Albert Einsteins vergleichbar. Und tatsächlich wurde Eda mit den beiden verglichen. Er war als Moslem in Nigeria geboren. Darin lag an sich nichts Ungewöhnliches, aber er war der Anhänger einer unorthodoxen islamischen Splittergruppe namens Ahmadiyah, die zu den Sufis gehörte. Die Sufis waren für den Islam das, was der Zen für den Buddhismus war, hatte Eda nach dem Abend mit dem buddhistischen Mönch erklärt. Ahmadiyah verkündete „das dschihad des Wortes, nicht des Schwertes“.
Trotz seines ruhigen, ja bescheidenen Auftretens war Eda ein fanatischer Gegner der konventionellen moslemischen Idee des dschihad, des Heiligen Krieges. Er setzte sich für einen lebendigen und freien Austausch der Gedanken ein. In diesem Punkt war er für viele konservative Moslems ein Ärgernis. Deshalb hatten auch einige islamische Länder gegen seine Nominierung protestiert. Sie standen damit nicht allein. Ein schwarzer Nobelpreisträger — der gelegentlich als der klügste Mensch auf der Erde bezeichnet wurde — war einfach zuviel für all jene, die ihren Rassismus nur den neuen sozialen Gepflogenheiten zuliebe verschleiert hatten. Als Eda vor vier Jahren Tyrone Free im Gefängnis besucht hatte, war das Selbstbewußtsein der schwarzen Amerikaner bemerkenswert gestiegen. Er wurde zum neuen Idol der Jugend. Eda brachte die schlimmsten Eigenschaften der Rassisten und die besten Eigenschaften der übrigen Menschen ans Licht.
„Die Zeit, die man braucht, um Physik zu betreiben, ist ein Luxus“, sagte er zu Ellie. „Viele Menschen könnten genau dasselbe schaffen wie ich, wenn sie dieselben Möglichkeiten hätten. Aber wenn man die Mülltonnen auf den Straßen nach Eßbarem durchwühlen muß, dann hat man keine Zeit, physikalische Studien zu betreiben. Es ist meine Pflicht, die Bedingungen für die Wissenschaftler in meinem Land zu verbessern.“ Als er in Nigeria allmählich zum Nationalhelden wurde, sprach er immer offener über Korruption, über ungerechte Ansprüche und Forderungen, über die Bedeutung der Rechtschaffenheit in den Wissenschaften und allen anderen Bereichen und darüber, wie bedeutend ein Land wie Nigeria sein könnte. Hier lebten genauso viele Menschen wie in den Vereinigten Staaten der zwanziger Jahre. Nigeria sei reich an Bodenschätzen und seine kulturelle Vielfalt sei seine Stärke. Wenn Nigeria seine Probleme lösen könne, so argumentierte er, dann würde es zum leuchtenden Vorbild für den Rest der Welt werden. Wenn er auch sonst Ruhe und Einsamkeit bevorzugte — bei diesem Thema nahm er kein Blatt vor den Mund. Viele nigerianische Männer und Frauen, darunter Moslems, Christen und Animisten, nahmen seine Zukunftsvision sehr ernst.