„An einem Fest der Liebe“, sagte Devi, „solltest du nicht so pessimistisch sein.“
In Sapporo hatte es tagelang geschneit. Der alte Brauch der Gegend, aus Schnee und Eis Tier- und Märchenfiguren zu modellieren, wurde wiederbelebt. Unter anderem war ein riesiges, sorgfältig geformtes Dodekaeder entstanden, das wie eine Ikone regelmäßig in den Abendnachrichten gezeigt wurde. Nach einigen für die Jahreszeit unerwartet warmen Tagen konnte man beobachten, wie die Eiskünstler versuchten, die Schäden an der in sich zusammensinkenden Maschine zu reparieren.
Immer häufiger wurde jetzt die Furcht geäußert, daß die Aktivierung der Maschine auf die eine oder andere Art eine weltweite Katastrophe auslösen könnte. Die Leitung des Projekts antwortete darauf mit Sicherheitserklärungen für die Öffentlichkeit und die verschiedenen Regierungen. Außerdem wurde bestimmt, daß der Zeitpunkt der Aktivierung geheimgehalten werden sollte. Einige Wissenschaftler schlugen den 17. November vor. Für diesen Abend war der spektakulärste Meteoritenregen des Jahrhunderts vorausgesagt worden. Ein verheißungsvolles Zeichen, meinte man. Valerian hielt dem allerdings entgegen, daß die Maschine, wenn sie genau zu diesem Zeitpunkt von der Erde abheben würde, durch eine Wolke von Kometentrümmern fliegen mußte, was eine zusätzliche und unnötige Gefahr bedeutete. Aus diesem Grund wurde der Start der Maschine um einige Wochen auf das Ende des letzten Monats des Jahres 1999 verschoben. Wenn auch dieses Datum nicht genau die Wende zum dritten Jahrtausend markierte, sondern ein Jahr davor lag, so waren doch verschwenderische Festlichkeiten von Gruppen und Initiativen geplant, die sich um kalendarische Konventionen nicht scherten oder einfach in zwei aufeinanderfolgenden Dezembermonaten das kommende Jahrtausend feiern wollten.
Obwohl die Außerirdischen nicht wissen konnten, wieviel jedes einzelne Besatzungsmitglied wiegen würde, gaben sie das Gewicht eines jeden Maschinenteils wie auch das zugelassene Gesamtgewicht ganz genau an. Das ließ nur wenig Spielraum für Ausrüstungsgegenstände, die auf der Erde entworfen worden waren. Dieser Umstand hatte einige Jahre zuvor zu der Forderung nach einem reinen Frauenteam geführt, weil dies den Anteil an irdischen Ausrüstungsgegenständen hätte erhöhen können. Das Ansinnen war jedoch als indiskutabel zurückgewiesen worden. Platz für Raumanzüge gab es nicht. Sie würden sich darauf verlassen müssen, daß die Wegianer sich der menschlichen Lust am Einatmen von Sauerstoff erinnerten. Angesichts des fehlenden persönlichen Gepäcks, der kulturellen Unterschiede und des unbekannten Ziels der Reise war klar, daß die Mission ein großes Risiko bedeutete. Die Weltpresse diskutierte es ständig. Ellie und ihre Gefährten sprachen dagegen nie davon.
Man hatte der Besatzung verschiedene Miniaturkameras, — spektrometer und — echtzeitrechner aufgedrängt und obendrein noch eine kleine Bibliothek auf Mikrofilm. Aber es gab keine Schlaf—, Koch- oder Toiletteneinrichtungen an Bord der Maschine. Sie nahmen nur ein absolutes Minimum an Proviant mit. Devi hatte eine kleine Reiseapotheke dabei. Ellie selbst wollte nur eine Zahnbürste und eine zweite Garnitur Unterwäsche mitnehmen. Wenn sie mich in einem Sessel zur Wega befördern, dachte sie, dann werden sie wohl auch in der Lage sein, für die entsprechenden anderen Annehmlichkeiten zu sorgen. Wenn sie eine Kamera brauchen sollte, erklärte sie den Projektleitern, dann werde sie einfach die Wegianer um eine bitten.
Eine Gruppe von Leuten war offenbar ernsthaft der Ansicht, daß sie nackt auf Reisen gehen sollten. Da in der BOTSCHAFT von Kleidung nie die Rede gewesen sei, solle man auch keine mitnehmen, weil sonst vielleicht die Maschine nicht richtig funktionierte. Ellie und Devi waren wie viele andere darüber belustigt und antworteten auf solche Argumente, daß es ja auch kein Verbot des Tragens von Kleidern gebe, schließlich seien Kleider als eine verbreitete menschliche Sitte in der Sendung über die Olympischen Spiele deutlich geworden. Die Wegianer wüßten, daß die Menschen Kleider trugen, protestierten Xi und Waygay. Die einzige Beschränkung beträfe das Gesamtgewicht. Sollten sie sich vielleicht auch noch die Zähne ziehen lassen und ihre Brillen zurücklassen? In der Presse und bei den Technikern und der Besatzung selber wurde diese Debatte mit Humor kommentiert.
„Und wenn wir schon am Diskutieren sind“, sagte Lunatscharski, „die BOTSCHAFT legt nicht einmal fest, ob nur Menschen die Reise antreten können. Vielleicht wären Schimpansen ja genauso akzeptabel.“
Auch nur ein einziges, zweidimensionales Photo von einer außerirdischen Maschine wäre von unschätzbarem Wert, bekam Ellie zu hören. Und sie solle sich vorstellen, was ein Bild von den außerirdischen Wesen selbst bedeuten würde. Ob sie sich das bitte noch einmal durch den Kopf gehen lassen und vielleicht doch eine Kamera mitnehmen wolle? Der Heer, der sich mit einer großen amerikanischen Delegation auf Hokkaido aufhielt, mahnte dazu, mit größerem Ernst bei der Sache zu sein. Es stünde zuviel auf dem Spiel für — aber hier brachte sie ihn mit einem vernichtenden Blick zum Schweigen. Sie wußte genau, was er hatte sagen wollen: — für solche Kindereien. Und dann tat er auch noch so, als sei er derjenige von ihnen beiden, der verletzt worden sei. Ellie klagte Devi ihr Leid, die aber nicht eindeutig Partei für sie ergriff. Der Heer, sagte sie, sei doch so „süß“. Schließlich willigte Ellie ein, eine ultraverkleinerte Videokamera mitzunehmen. In das Gepäckverzeichnis, das der Projektleitung vorgelegt werden mußte, schrieb sie in die Rubrik „Persönliche Gegenstände“ außerdem: „Palmwedel, 0,811 kg“. Der Heer wurde zu ihr geschickt, um sie zur Vernunft zu bringen. „Du weißt, daß es eine großartige Infrarotkamera gibt, die nur 750 Gramm wiegt und sehr leicht mitzunehmen ist. Warum mußt du statt dessen ausgerechnet einen Zweig von einem Baum mitnehmen?“
„Einen Wedel. Es ist ein Palmwedel. Ich weiß, daß du in New York aufgewachsen bist. Aber du mußt doch wissen, was ein Palmwedel ist. Hast du in der Schule nicht Ivanhoe gelesen? Zur Zeit der Kreuzzüge nahmen die Pilger, die die lange Reise ins Heilige Land gemacht hatten, einen Palmwedel mit nach Hause, um zu beweisen, daß sie wirklich dort gewesen waren. Er gibt mir Zuversicht. Es kümmert mich wenig, wie fortgeschritten die Wegianer sind. Die Erde ist mein Heiliges Land. Ich bringe ihnen einen Palmwedel mit, um ihnen zu zeigen, woher ich komme.“
Der Heer schüttelte nur den Kopf. Aber als sie Waygay ihre Gründe erläuterte, sagte er: „Das verstehe ich sehr gut.“ Ellie erinnerte sich an Waygays Sorgen und die Geschichte, die er ihr in Paris von der Kutsche erzählt hatte, die man in ein ärmliches Dorf schickte. Aber das war nicht ihre Angst. Der Palmwedel erfüllte einen anderen Zweck, wie ihr plötzlich bewußt wurde. Sie brauchte etwas, das sie an die Erde erinnerte. Sie hatte Angst, sie könnte in Versuchung kommen, dort zu bleiben.
Einen Tag bevor die Maschine in Gang gesetzt werden sollte, erhielt sie ein kleines Päckchen, das persönlich in ihrer Wohnung in Wyoming abgegeben und dann per Eilboten nach Japan weitergeschickt worden war. Der Absender fehlte, und auch innen fand sich weder ein Brief noch sonst ein schriftlicher Vermerk. Das Päckchen enthielt ein goldenes Medaillon an einem Kettchen. Man konnte es offensichtlich auch als Pendel benutzen. Auf beiden Seiten war klein, aber lesbar eine Inschrift eingraviert. Auf der einen Seite stand:
Hera, die strahlende Herrscherin, Angetan mit güldenen Gewändern, Gebot über den vieläugigen Argus, Dessen forschende Blicke Unstet durch die Welt jagen.
Auf der Rückseite las sie:
Dies ist die Antwort der Verteidiger Spartas an den Befehlshaber des römisches Heeres: „Wenn du ein Gott bist, dann wirst du nicht die bekämpfen, die dir nie ein Leid zugefügt haben. Wenn du aber ein Mensch bist, rücke vor — und du wirst auf Männer treffen, die dir gleich sind.“ Und auf Frauen.