Teil III
Die Galaxis
Und ich wandere über ein weites Hochland und weiß, daß da Hoffnung ist für alle Wesen, die Du aus Staub geformt hast, mit ewigen Dingen zu verkehren.
19
Nackte Singularität
…zum Himmelreich hinan
in einem Sprunge dann.
Es ist nicht unmöglich, daß einem unendlich überlegenen Wesen das ganze Universum als eine Ebene erscheint, auf der die Entfernung zwischen zwei Planeten den Poren eines Sandkorns entspricht und der Abstand von System zu System nicht größer ist als der Zwischenraum zweier nebeneinanderliegender Sandkörner.
Sie stürzten. Die fünfeckigen Flächen des Dodekaeders waren durchsichtig geworden. Ebenso das Dach und der Boden. Über und unter sich konnte Ellie das Filigran aus kohlenstoffgebundenem Silizium mit den darin eingelassenen Dübeln aus Erbium erkennen, die sich zu bewegen schienen. Alle drei Benzel waren verschwunden. Das Dodekaeder neigte sich nach vorn und raste durch einen langen, dunklen Tunnel, der eben breit genug war, um es hindurchzulassen. Die Beschleunigung schien ungefähr bei einem g zu liegen. Das hatte zur Folge, daß Ellie, die mit dem Gesicht nach vorn saß, rückwärts in ihren Sessel gedrückt wurde, während Devi auf dem Platz ihr gegenüber in der Taille leicht nach vorn geknickt dasaß. Vielleicht hätten sie doch Sicherheitsgurte einbauen sollen.
Fast automatisch drängte sich der Gedanke auf, sie hätten die Erdkruste durchstoßen und würden sich jetzt auf den Kern aus geschmolzenem Eisen zubewegen. Oder vielleicht flogen sie auch geradewegs in die. Ellie versuchte sich vorzustellen, dieses unbegreifliche Beförderungsmittel sei die Fähre über den Styx.
Die Tunnelwände hatten eine Struktur, an der sie ihre Geschwindigkeit ermessen konnte. Sie trugen ein Muster aus unregelmäßigen, abgerundeten Flecken ohne genau bestimmbare Form. Das Aussehen der Wände war nicht bemerkenswert, wohl aber deren Eigenschaften. Schon wenige hundert Kilometer unter der Erdoberfläche hätte das Gestein rotglühend sein müssen. Dafür gab es jedoch nicht das kleinste Anzeichen. Keine Unterteufel regelten den Verkehr.
Hin und wieder streifte eine vorstehende Ecke des Dodekaeders die Wand. Dadurch wurde ein unbekanntes Material in Flocken abgekratzt. Dem Dodekaeder selbst schien das nicht zu schaden. Schon bald flog eine ganze Wolke feiner Teilchen hinter ihm her. Jedesmal, wenn das Dodekaeder die Wand berührte, konnte Ellie eine Schwingung spüren, so als ob etwas Weiches nachgäbe, um den Aufprall zu mildern. Das schwache, gelbe Licht war diffus und gleichmäßig. Gelegentlich verlief der Tunnel in einer sanften Biegung. Dann folgte das Dodekaeder der Kurvenführung gehorsam. So weit sie sehen konnte, kam ihnen nichts entgegen. Bei dieser Geschwindigkeit hätte sogar der Zusammenstoß mit einem Spatzen zu einer verheerenden Explosion geführt. Und wenn das nun ein endloser Sturz in einen bodenlosen Schacht war? Sie konnte die Furcht geradezu körperlich in der Magengrube spüren. Sie versuchte, an nichts zu denken. Schwarzes Loch, dachte sie. Schwarzes Loch. Ich falle durch den Ereignishorizont eines Schwarzen Loches in die gefürchtete Singularität. Oder vielleicht ist das gar kein Schwarzes Loch, und ich falle in eine nackte Singularität. So nannten es die Physiker, nackte Singularität. In der Nähe einer Singularität konnte die Kausalität vertauscht sein, Wirkungen konnten vor ihren Ursachen eintreten, die Zeit konnte rückwärts vergehen, und ein Überleben war unwahrscheinlich, ganz zu schweigen von einer Erinnerung an das Erlebte. Im Fall eines rotierenden Schwarzen Loches, kramte sie aus ihrer Erinnerung an Jahre zuvor Gelerntes hervor, galt es, nicht eine punkt—, sondern eine ringförmige Singularität zu vermeiden, oder sogar etwas noch Komplexeres. Schwarze Löcher waren garstig. Ihre von Gezeiten abhängige Schwerkraft war so stark, daß jeder, der unvorsichtig genug war hineinzufallen, zu einem langen, dünnen Faden gedehnt wurde. Zusätzlich wurde man von der Seite her zerdrückt. Glücklicherweise gab es dafür gegenwärtig keinerlei Anzeichen. Durch die grauen, durchsichtigen Flächen, zu denen Decke und Boden geworden waren, konnte sie einen Strudel von Aktivität und Bewegung sehen. Die Matrix aus kohlenstoffgebundenem Silizium fiel an einigen Stellen in sich zusammen und öffnete sich an anderen. Die darin eingelassenen Dübel aus Erbium ruckten und drehten sich. Aber im Innern des Dodekaeders — Ellie selbst und ihre Begleiter eingeschlossen — sah alles ganz gewöhnlich aus. Gut, vielleicht waren sie ein wenig aufgeregt. Aber noch waren sie keine langen, dünnen Fäden. Sie wußte, daß das sinnlose Grübeleien waren. Die Physik der Schwarzen Löcher war nicht ihr Gebiet. Aber trotzdem konnte sie nicht verstehen, wie das hier überhaupt etwas mit Schwarzen Löchern zu tun haben konnte. Schwarze Löcher waren entweder primordial — sie hatten sich bei der Entstehung des Universums gebildet — oder sie waren zu einem späteren Zeitpunkt entstanden, wenn ein Stern in sich zusammenfiel, dessen Masse größer als die der Sonne war. Im letzteren Fall war die Schwerkraft des Sterns so stark, daß — von einzelnen Photonen abgesehen, die den Stern aufgrund des Quanteneffekts verlassen konnten — nicht einmal Licht von ihm abstrahlen konnte, obwohl sein Gravitationsfeld bestehen blieb. Daher „schwarz“ und daher „Loch“. Aber sie hatten keinen Stern zum Kollabieren gebracht, und Ellie konnte sich nicht vorstellen, daß sie ein primordiales Schwarzes Loch erwischt hatten. Trotzdem, niemand wußte, wo das nächste primordiale Schwarze Loch versteckt sein mochte. Sie hatten nur die Maschine gebaut und die Benzel aufgedreht. Ellie warf einen Blick zu Eda hinüber, der auf einem kleinen Computer etwas ausrechnete. Durch die Resonanz in ihren Knochen konnte sie jedes Mal, wenn das Dodekaeder die Wand streifte, ein dumpfes Dröhnen gleichzeitig spüren und hören. Sie erhob die Stimme, damit er sie hörte. „Verstehst du, was hier vorgeht?“
„Überhaupt nicht“, schrie er zurück, „Ich kann fast schon beweisen, daß das, was wir hier erleben, gar nicht sein kann. Kennst du die Boyer-Lindquist-Koordinaten?“
„Leider nein.“
„Ich erkläre sie dir später.“
Sie war froh darüber, daß er offensichtlich glaubte, es würde ein „Später“ geben.
Ellie spürte die Verzögerung, bevor sie sie sehen konnte. Es war, als ob sie auf der Achterbahn die Schiene nach unten gerast wären, die Talsohle erreicht hätten und jetzt langsam nach oben stiegen. Unmittelbar bevor die Verzögerung einsetzte, war der Tunnel in einer komplexen Abfolge von plötzlichen Kehren und Windungen verlaufen. Es gab keine wahrnehmbare Veränderung in der Farbe oder Helligkeit des sie umgebenden Lichts. Sie nahm die Kamera zur Hand, stellte das Teleobjektiv ein und blickte so weit nach vorn, wie es ihr möglich war. Sie konnte nur bis zur nächsten Krümmung des gewundenen Tunnels sehen. In der Vergrößerung wirkte die Struktur der Wand kompliziert und unregelmäßig. Einmal meinte Ellie, ein schwaches Leuchten der Wand wahrzunehmen.
Das Dodekaeder hatte seinen Flug auf Kriechgeschwindigkeit verlangsamt, jedenfalls schien es so im Vergleich zu vorher. Ein Ende des Tunnels war nicht in Sicht. Ellie fragte sich, ob sie jemals ankommen würden, wo auch immer sie hinflogen. Vielleicht hatten sich die Konstrukteure verrechnet. Vielleicht hatte man beim Bau der Maschine einen Fehler gemacht, nur einen ganz kleinen Fehler. Vielleicht würde etwas, das in Hokkaido als kleine technische Unvollkommenheit galt, das Scheitern ihrer Mission bedeuten, hier in. wo auch immer. Oder, dachte sie mit einem Blick auf die Wolke kleiner Teilchen, die ihnen folgte und sie gelegentlich überholte, vielleicht waren sie einmal zu oft an die Wände gestoßen und hatten mehr an Impuls verloren, als der Plan vorsah. Der Zwischenraum zwischen dem Dodekaeder und den Wänden schien jetzt sehr gering. Vielleicht würden sie in diesem Nirgendwo steckenbleiben und so lange schmachten, bis ihnen der Sauerstoff ausging. War es möglich, daß sich die Wegianer all die Mühe gemacht und dabei vergessen hatten, daß Menschen atmen mußten? Hatten sie all die schreienden Nazis nicht bemerkt?