Nach und nach erschienen die Sterne. Alle waren sie da, die vertrauten Sternbilder der Erde. Ellie meldete sich freiwillig dazu, eine Weile wachzubleiben und auf das Feuer aufzupassen, während die anderen schliefen. Sie wollte die Leier aufsteigen sehen. Nach ein paar Stunden war es so weit. Es war eine außergewöhnlich klare Nacht, und die Wega leuchtete gleichmäßig und hell. Aus der scheinbaren Bewegung der Sternbilder über den Himmel, aus den Konstellationen der südlichen Hemisphäre, die sie erkennen konnte, und aus der Position des Großen Wagens nahe des nördlichen Horizonts schloß sie, daß sie sich eigentlich in tropischen Breiten befinden mußten. Wenn das alles nur eine Simulation ist, ging es ihr vor dem Einschlafen durch den Kopf, dann haben sie sich ganz schön viel Mühe gemacht.
Sie hatte einen merkwürdigen kleinen Traum. Alle fünf schwammen sie nackt und unbefangen unter Wasser. Träge schwebten sie an einer Dornkoralle vorbei, dann glitten sie in Spalten, die im nächsten Moment schon von vorbeitreibendem Seetang verdeckt wurden. Einmal stieg sie zur Oberfläche auf. Ein Schiff in Form eines Dodekaeders flog dicht über der Wasseroberfläche vorbei. Seine Wände waren durchsichtig, und im Innern konnte sie Leute in Lendentüchern und Sarongs sehen. Sie lasen Zeitung und plauderten miteinander. Ellie tauchte wieder unter. Dorthin, wo sie hingehörte. Obwohl der Traum lange Zeit zu dauern schien, hatte keiner von ihnen Schwierigkeiten zu atmen. Sie atmeten Wasser ein und aus. Sie verspürten keine Erschöpfung — sie bewegten sich so natürlich wie die Fische im Wasser. Waygay sah sogar ein wenig wie ein Fisch aus — vielleicht wie ein Barsch. Das Wasser mußte ungeheuer viel Sauerstoff enthalten. Mitten im Traum erinnerte Ellie sich an die Maus, die sie einmal in einem physiologischen Labor gesehen hatte. Die Maus hatte in ihrem Gefäß voll Wasser, das mit Sauerstoff angereichert worden war, einen vollkommen zufriedenen Eindruck gemacht und sogar hoffnungsvoll mit ihren kleinen Vorderpfoten gerudert. Ein wurmförmiger Schwanz schwamm hinter ihr. Ellie versuchte, sich daran zu erinnern, wieviel Sauerstoff ein Mensch eigentlich brauchte, aber es war zu anstrengend. Es kam ihr vor, als ob sie immer langsamer dächte. Aber auch das schien seine Ordnung zu haben. Die anderen sahen jetzt eindeutig wie Fische aus. Devi hatte durchscheinende Flossen. Ellie spürte ein vages sinnliches Interesse in sich aufsteigen. Sie hoffte, es würde so weitergehen, damit sie die Frage beantworten konnte. Aber selbst die Frage, die sie beantworten wollte, hatte sie vergessen. Wie konnte man nur warmes Wasser atmen, dachte sie. Was wird ihnen als nächstes einfallen?
Ellie erwachte mit einem so starken Gefühl der Orientierungslosigkeit, daß es sie fast schwindlig machte. Wo war sie? In Wisconsin, Puerto Rico, New Mexico, Wyoming oder Hokkaido? Oder an der Malakka-Straße? Dann erinnerte sie sich. Es war bis auf 30000 Lichtjahre ungeklärt, wo in der Milchstraße sie sich befand. Wahrscheinlich ist das der Weltrekord an Orientierungslosigkeit, dachte sie. Trotz ihrer Kopfschmerzen lachte sie. Devi, die neben ihr schlief, bewegte sich. Weil der Strand leicht anstieg — sie hatten ihn am Nachmittag zuvor etwa einen Kilometer weit erkundet und nicht die Spur eines bewohnten Ansiedlung entdeckt —, hatte die direkte Sonneneinstrahlung sie noch nicht erreicht. Ellie ruhte auf einem Kopfkissen aus Sand. Devi, die gerade aufwachte, hatte den Kopf beim Einschlafen am Abend zuvor auf ihren zusammengerollten Overall gelegt gehabt. „Findest du nicht, daß eine Kultur, in der man weiche Kopfkissen braucht, etwas Verweichlichtes an sich hat?“ fragte Ellie.
Devi lachte und wünschte ihr einen guten Morgen. Von weiter oben am Strand hörten sie Geschrei. Die drei Männer winkten und gaben Zeichen. Ellie und Devi standen auf und gingen zu ihnen.
Aufrecht im Sand stand eine Tür. Eine hölzerne Tür — mit Türfüllung und einer Klinke aus Messing. Die Tür war mit schwarzgestrichenen Angeln an zwei Pfosten befestigt, die durch Sturz und Schwelle miteinander verbunden waren. Ein Namensschild war nicht zu sehen. Was in keiner Weise ungewöhnlich war. Für die Erde. „Jetzt geh mal auf die andere Seite“, forderte Xi sie auf. Von der Rückseite aus gesehen, war die Tür überhaupt nicht vorhanden. Sie konnte Eda, Waygay und Xi sehen und Devi, die etwas weiter weg stand. Zwischen den vier anderen und ihr selbst lag überall Sand. Sie bewegte sich seitwärts und dabei wurden ihre Fersen von der Brandung feucht. Von der Seite sah sie eine einzige, dunkle und rasiermesserdünne senkrechte Linie. Sie zögerte, sie zu berühren. Sie kehrte wieder auf die Rückseite zurück und versicherte sich, daß es in der Luft vor ihr weder Schatten noch Spiegelungen gab. Dann trat sie hindurch.
„Bravo“, lachte Eda. Sie drehte sich um und sah die geschlossene Tür vor sich.
„Was habt ihr gesehen?“, fragte sie.
„Eine reizende Frau, die durch eine zwei Zentimeter dicke geschlossene Tür schlenderte.“
Waygay schien es trotz des Mangels an Zigaretten gut zu gehen.
„Habt ihr versucht, die Tür zu öffnen?“ fragte sie. „Noch nicht“, antwortete Xi.
Sie trat zurück und bewunderte die Erscheinung der Tür. „Das sieht aus wie etwas von — wie hieß doch dieser französische Surrealist?“ fragte Waygay. „Rene Magritte“, antwortete sie. „Er war Belgier.“
„Wenn ich recht verstehe, sind wir alle der Ansicht, daß dies hier nicht wirklich die Erde ist“, sagte Devi. Ihre Handbewegung schloß den Ozean, den Strand und den Himmel mit ein.
„Es sei denn, wir sind dreitausend Jahre vor unserer Zeit im Persischen Golf und hier treiben sich Jins herum.“ Ellie lachte.
„Beeindruckt es dich nicht, wie sorgfältig die Konstruktion ausgeführt ist?“
„Doch“, erwiderte Ellie. „Diese Leute sind sehr gut, das gestehe ich ihnen zu. Aber wozu das Ganze? Wofür die Mühe mit all den Details?“
„Vielleicht haben sie einfach eine Leidenschaft dafür, alles richtig zu machen.“
„Oder sie wollen uns beeindrucken.“
„Ich verstehe nicht“, fuhr Devi fort, „woher sie unsere Türen so gut kennen. Überlegt nur mal, wie viele unterschiedliche Möglichkeiten es gibt, eine Tür zu bauen. Wie konnten sie das wissen?“
„Es könnte das Fernsehen sein“, gab Ellie zur Antwort. „Auf der Wega hat man die Fernsehsignale von der Erde bis zu den Programmen von, sagen wir, 1974 empfangen. Offensichtlich können sie die interessanten Aufzeichnungen per Spezialversand in Null Komma Nichts hierher schicken. Wahrscheinlich waren zwischen 1936 und 1974 eine Menge Türen im Fernsehen zu sehen. Gut“, fuhr sie fort, ohne die Stimme zu heben, „was, meint ihr, passiert, wenn wir die Tür öffnen und hindurchgehen?“
„Wenn wir hier sind, um geprüft zu werden“, sagte Xi, „dann findet wahrscheinlich auf der anderen Seite der Tür die Prüfung statt, vielleicht eine für jeden von uns.“ Er war bereit. Ellie wünschte sich, es auch zu sein. Die Schatten der nächsten Palmen erreichten nun den Strand. Wortlos sahen sie einander an. Alle vier schienen darauf erpicht zu sein, die Tür zu öffnen und hindurchzutre-ten. Nur sie spürte eine gewisse. Zurückhaltung. Sie fragte Eda, ob er vorangehen wolle. Am besten stellen wir gleich unseren repräsentativsten Fuß in die Tür, dachte sie. Eda zog seinen Hut, machte eine leichte, anmutige Verbeugung, drehte sich um und ging auf die Tür zu. Ellie lief ihm nach und küßte ihn auf beide Wangen. Die anderen umarmten ihn auch. Dann drehte er sich wieder um, öffnete die Tür und löste sich in Luft auf: zuerst verschwand der rechte Fuß, zuletzt die Hand auf der Klinke. Während die Tür offenstand, schien es hinter ihm nur die Fortsetzung des Strandes und die Brandung zu geben. Die Tür schloß sich. Ellie lief um sie herum, aber von Eda war keine Spur zu sehen. Xi war der Nächste. Ellie fiel auf, wie erstaunlich fügsam sie alle sich bisher verhalten hatten. Sie waren jeder anonymen Einladung bereitwilligst gefolgt. Man hätte ihnen ja auch sagen können, wohin sie gebracht wurden und wozu das alles gut war, dachte sie. Es hätte ein Teil der BOTSCHAFT sein können, oder man hätte ihnen Informationen zukommen lassen können, nachdem die Maschine gestartet war. Man hätte ihnen sagen können, daß sie auf einem Strand landen würden, der wie ein Strand der Erde aussah. Man hätte ihnen sagen können, daß eine Tür sie erwartete. Gut, die Außerirdischen waren zwar gebildet, aber vielleicht konnten sie trotzdem nicht genügend Englisch, schließlich war ihr einziger Lehrmeister ja das Fernsehen. Ellies Kenntnisse des Russischen, des Mandarin, des Tamil und des Haussa war vermutlich noch lückenhafter. Aber die Außerirdischen hatten die Sprache erfunden, die sie in dem Schlüssel für die BOTSCHAFT eingeführt hatten. Warum benutzten sie nicht die? Um sie zu überraschen? Waygay sah, wie sie die geschlossene Tür anstarrte, und fragte, ob sie als Nächste eintreten wolle. „Danke, Waygay. Ich war in Gedanken. Ich weiß, es ist ein bißchen verrückt, aber ich habe gerade gedacht: Warum müssen wir durch jeden Reifen springen, den sie für uns hochhalten? Was ist, wenn wir nicht tun, worum sie uns bitten?“