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Nachdem ich meine Frühstückspause auf über eine Stunde ausgedehnt hatte, wanderte ich weiter, fand ein Kleidergeschäft und wartete, bis um halb zehn Uhr aufgemacht wurde.

Dann kaufte ich ein paar Hosen, drei Sporthemden, einen Gürtel, etwas Unterkleidung und ein Paar bequeme Schuhe. Außerdem suchte ich mir ein Taschentuch, eine Brieftasche und einen Taschenkamm aus.

Anschließend ging ich zur Greyhound-Station und stieg in einen Bus nach New York. Niemand versuchte mich aufzuhalten. Niemand schien nach mir zu suchen.

Während ich die vorbeihuschende Landschaft betrachtete, die in bunten Herbstfarben leuchtete und unter einem hellen, kalten Himmel von frischen Windböen bewegt wurde, ließ ich mir all die Dinge, die ich über mich und meine Lage wußte, durch den Kopf gehen.

Ich war von meiner Schwester Evelyn Flaumel als Carl Corey in Greenwood eingeliefert worden. Dies war als Folge eines Autounfalls geschehen, der etwa vierzehn Tage zurücklag – und bei dem ich mir angeblich Knochenbrüche zugezogen hatte, die mir aber keine Schwierigkeiten mehr machten. Ich hatte keinerlei Erinnerung an eine Schwester Evelyn. Die Leute in Greenwood waren angewiesen, mich ruhig zu halten, fürchteten aber rechtliche Konsequenzen, als ich mich befreien konnte und sie bedrohte. Also gut. Irgend jemand hatte Angst vor mir – aus irgendeinem Grund. An diesem Punkt wollte ich einhaken.

Ich zwang mich, an den Unfall zu denken, konzentrierte mich darauf, bis ich Herzschmerzen bekam. Es war kein Unfall gewesen. Dieser Eindruck schälte sich heraus, obwohl ich den Grund dafür nicht wußte. Aber ich würde die Wahrheit schon feststellen, und jemand würde dafür büßen müssen! Und zwar gehörig! Ein ungeheurer Zorn flammte plötzlich in mir auf. Wer mir weh zu tun versuchte, wer mich für seine Zwecke einspannen wollte, handelte auf eigene Gefahr und würde nun seine gerechte Strafe erhalten, wer immer dahinterstecken mochte. Mordgedanken bewegten mich, und ich wußte, daß ich solche Gefühle nicht zum erstenmal hatte, daß ich diesem Impuls in der Vergangenheit schon stattgegeben hatte. Und zwar mehr als einmal.

Ich starrte aus dem Fenster und sah zu, wie die toten Blätter von den Bäumen fielen.

Als ich die große Stadt erreichte, suchte ich den nächsten Frisiersalon auf und bestellte Rasur und Haarschnitt; anschließend wechselte ich auf der Toilette Hemd und Unterhemd, denn ich mag es nicht, wenn mir Haarschnipsel über den Rücken rieseln. Die .32 Automatic, die dem namenlosen Individuum in Greenwood gehörte, ruhte in meiner rechten Jackentasche. Wenn Greenwood oder meine Schwester mich schleunigst wieder festsetzen wollten, mochte ihnen eine Übertretung des Waffengesetzes gerade recht kommen. Dennoch beschloß ich die Waffe zu behalten, denn auf jeden Fall mußten sie mich zuerst mal finden, und ich wollte gewappnet sein. Ich aß kurz zu Mittag, fuhr eine Stunde lang mit U-Bahn und Bussen herum, bestieg schließlich ein Taxi, das mich zu Evelyns Adresse in Westchester brachte, zu Evelyn, meiner angeblichen Schwester, die hoffentlich mein Gedächtnis etwas auftauen würde.

Schon vor meiner Ankunft hatte ich mir eine Taktik zurechtgelegt.

Als dann schließlich die Tür des großen Hauses dreißig Sekunden nach meinem Klopfen aufschwang, wußte ich, was ich sagen wollte. Ich hatte darüber nachgedacht, während ich die gewundene weiße Kiesauffahrt entlangging, zwischen dunklen Eichen und hellschimmernden Ahornbäumen, während unter meinen Füßen das Laub raschelte und mir der Wind kühl um den frischgeschorenen Hals im hochgeschlagenen Jackenkragen strich.

Der Duft meines Haarwassers vermengte sich mit dem dumpfen Geruch der Efeuranken, die sich an den Mauern des alten Gebäudes hochzogen. Nichts kam mir aus meiner Erinnerung vertraut vor. Ich hatte den Eindruck, noch nie hier gewesen zu sein.

Ich hatte geklopft; das Geräusch hatte ein Echo gefunden.

Dann hatte ich die Hände in die Taschen gesteckt und gewartet.

Als die Tür aufging, lächelte und nickte ich dem Hausmädchen entgegen; sie hatte zahlreiche Leberflecken, eine dunkle Haut und einen puertoricanischen Akzent.

»Ja?« fragte sie.

»Ich möchte bitte Mrs. Evelyn Flaumel sprechen.«

»Wen darf ich anmelden?«

»Ihren Bruder Carl.«

»Oh, kommen Sie doch bitte herein«, forderte sie mich auf.

Ich betrat den Flur. Der Boden war ein Mosaik aus winzigen lachs- und türkisfarbenen Kacheln, die Wände waren mahagoniverkleidet, in einem Raumteiler zu meiner Linken stand eine Wanne voller großblättriger Gewächse. Von oben spendete ein Würfel aus Glas und Emaille ein gelbliches Licht.

Das Mädchen verschwand, und ich suchte meine Umgebung nach vertrauten Dingen ab.

Nichts.

Also wartete ich.

Schließlich kehrte das Hausmädchen zurück, nickte lächelnd und sagte: »Bitte folgen Sie mir. Man wird Sie in der Bibliothek empfangen.«

Ich folgte ihr drei Stufen hinauf und an zwei geschlossenen Türen vorbei durch einen Korridor. Die dritte Tür zur Linken war offen, und das Mädchen bedeutete mir einzutreten. Ich gehorchte und blieb auf der Schwelle stehen.

Wie alle Bibliotheken war der Raum voller Bücher. Drei Gemälde hingen an den Wänden, zwei ruhige Landschaften und ein friedlicher Meerblick.

Der Boden war mit dickem, grünem Material ausgelegt. Neben dem Tisch stand ein riesiger alter Globus, Afrika war mir zugewendet; dahinter erstreckte sich ein zimmerbreites Fenster, in kleine Glasfelder unterteilt. Doch nicht deswegen hielt ich auf der Schwelle inne.

Die Frau hinter dem Tisch trug ein blaugrünes Kleid mit breitem Kragen und V-Ausschnitt, hatte langes Haar und herabhängende Locken, in der Farbe etwa zwischen Sonnenuntergangswolken und der Außenkante einer Kerzenflamme in einem abgedunkelten Raum. Naturfarben, wie ich instinktiv wußte. Die Augen hinter einer Brille, die sie meinem Gefühl nach nicht brauchte, waren so blau wie der Erie-See um drei Uhr an einem wolkenlosen Sommernachmittag; und die Tönung ihres gezwungenen Lächelns paßte zu ihrem Haar. Doch auch das brachte mich nicht ins Stocken.

Ich kannte sie von irgendwoher – wenn ich den Ort auch nicht zu nennen vermochte.

Ich trat vor, ohne mein Lächeln zu verändern.

»Hallo«, sagte ich.

»Setz dich, bitte«, sagte sie und deutete auf einen Sessel mit hoher Lehne und breiten Armstützen, der weich und orangefarben gepolstert und genau in dem Winkel zurückgeklappt war, wie ich es zum Herumlümmeln gern hatte.

Ich kam der Aufforderung nach, und sie sah mich an.

»Freut mich, daß du wieder auf den Beinen bist.«

»Ich auch. Wie ist es dir ergangen?«

»Gut, danke der Nachfrage. Ich muß zugeben, daß ich dich hier nicht zu sehen erwartet hätte.«

»Ich weiß«, hakte ich nach. »Aber hier bin ich nun, um dir für deine schwesterliche Fürsorge zu danken.« Ich legte einen leicht ironischen Ton in meine Worte, weil mich ihre Reaktion interessierte.

In diesem Augenblick kam ein riesiger Hund ins Zimmer – ein irischer Wolfshund – und rollte sich vor dem Tisch zusammen. Ein zweiter folgte und wanderte zweimal um den Globus, ehe er sich ebenfalls hinlegte.

»Nun«, sagte sie ebenso ironisch, »das war das mindeste, was ich für dich tun konnte. Du müßtest eben vorsichtiger fahren.«

»Ab jetzt«, sagte ich, »werde ich vorsichtiger sein, das verspreche ich dir.« Ich wußte nicht, welche Rolle ich hier eigentlich spielte, aber da sie nicht wußte, daß ich nichts wußte, beschloß ich, sie gründlich auszuhorchen. »Ich hatte mir gedacht, es würde dich interessieren, wie es mir geht, und bin gekommen, damit du mich anschauen kannst.«

»Neugierig war ich tatsächlich – und bin es immer noch«, erwiderte sie. »Hast du schon gegessen?«

»Etwas Schnelles, vor mehreren Stunden.«

Sie klingelte nach dem Mädchen und bestellte etwas zu essen. Dann sagte sie: »Ich hatte mir schon gedacht, daß du Greenwood verlassen würdest, sobald du dazu in der Lage warst. Allerdings hatte ich nicht angenommen, daß es so schnell geschehen würde – und daß du dann hierherkommen würdest!«