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Doch ich hätte um alles in der Welt nicht sagen können, was auf den fehlenden Trümpfen dargestellt war.

Diese Erkenntnis bedrückte mich seltsam, und ich nahm meine Zigarette zwischen die Finger und überlegte.

Warum kamen all diese Erinnerungen so schnell zurück, wenn ich die Karten betrachtete – warum fluteten sie mir in den Kopf, ohne ihren Hintergrund oder den größeren Zusammenhang gleich mitzubringen? Natürlich wußte ich jetzt mehr als zu Anfang, jedenfalls im Hinblick auf Namen und Gesichter. Aber das war so ziemlich alles.

Ich vermochte die Bedeutung der Tatsache nicht zu ergründen, daß wir alle auf diesen Karten festgehalten worden waren. Dabei verspürte ich den starken Wunsch, ein solches Spiel zu besitzen. Doch wenn ich Floras Karten an mich nahm, merkte sie sofort, daß sie fehlten, und das konnte Ärger bringen. Ich legte sie also wieder in die kleine Schublade hinter der großen Lade und schloß sie ein. Und dann zermartete ich mir das Gehirn – und wie, bei Gott! Aber ich kam nicht weiter.

Bis ich auf ein Zauberwort stieß.

Amber.

Gestern abend hatte mich dieses Wort ziemlich erschüttert – und zwar so sehr, daß ich der Erinnerung bisher bewußt aus dem Weg gegangen war. Doch jetzt schlich ich näher heran. Jetzt bewegte ich das Wort im Geiste hin und her und untersuchte alle Gedanken, die mir dabei kamen.

In dem Wort knisterte eine starke Sehnsucht und eine gewaltige Nostalgie. Ganz im Innern umschloß es Begriffe wie verlorene Schönheit und große Taten und ein Machtbewußtsein, das geradezu allumfassend war. Irgendwie gehörte dieses Wort zu meinem Sprachschatz. Irgendwie war ich ein Teil davon, und es war ein Teil von mir. Es war der Name eines Ortes, das erkannte ich nun. Es war der Name eines Ortes, der mir einmal sehr vertraut gewesen war. Doch das Wort beschwor keine Bilder herauf, nur Gefühle.

Wie lange ich so dasaß, weiß ich nicht. Meine Träumereien hatten mich irgendwie von der Zeit gelöst.

Aus dem innersten Kern meiner Gedanken stieg die Erkenntnis auf, daß es leise geklopft hatte. Dann drehte sich langsam der Türknauf, und das Mädchen – Carmella – trat ein und erkundigte sich, ob ich zu Mittag etwas essen wollte.

Die Vorstellung behagte mir, und ich folgte ihr in die Küche und aß ein halbes Hähnchen und trank ein großes Glas Milch.

Schließlich nahm ich einen Topf Kaffee mit in die Bibliothek, wobei ich den Hunden aus dem Weg ging. Ich war gerade bei meiner zweiten Tasse, als das Telefon klingelte.

Es kribbelte mir in den Fingern, den Hörer abzunehmen, doch ich vermutete, daß es überall im Haus Nebenapparate gab und Carmella sich bestimmt melden würde.

Aber das war ein Irrtum. Der Apparat klingelte weiter.

Schließlich konnte ich nicht mehr widerstehen.

»Hallo«, sagte ich. »Hier bei Flaumel.«

»Könnte ich bitte Mrs. Flaumel sprechen?«

Es war die Stimme eines Mannes; er sprach hastig und etwas nervös. Er schien außer Atem zu sein, und seine Worte kamen gedämpft und durch das schwache Surren und die Gespensterstimmen, die auf ein Ferngespräch hindeuten.

»Tut mir leid«, sagte ich. »Sie ist im Augenblick nicht hier. Kann ich ihr etwas ausrichten, oder soll sie Sie anrufen?«

»Mit wem spreche ich denn?« wollte er wissen.

Ich zögerte. »Corwin«, sagte ich schließlich.

»Mein Gott!« rief er, und ein langes Schweigen trat ein.

Ich dachte schon, er hätte aufgelegt. »Hallo?« fragte ich noch einmal, als er wieder zu sprechen begann.

»Lebt sie noch?« wollte er wissen.

»Natürlich! Mit wem spreche ich denn überhaupt?«

»Erkennst du meine Stimme nicht, Corwin? Hier ist Random. Hör zu, ich bin in Kalifornien und habe Ärger. Ich wollte Flora eigentlich nur bitten, mir Zuflucht zu gewähren. Hast du dich mit ihr zusammengetan?«

»Vorübergehend«, sagte ich.

»Ich verstehe. Gewährst du mir deinen Schutz, Corwin?« Pause. Dann: »Bitte!«

»Soweit ich kann«, erwiderte ich. »Aber ich kann Flora zu nichts verpflichten, ohne mit ihr abzustimmen.«

»Wirst du mich vor ihr beschützen?«

»Ja.«

»Dann genügt mir das völlig, Mann. Ich will sehen, daß ich es nach New York schaffe. Dabei muß ich etliche Umwege in Kauf nehmen, ich weiß also nicht, wie lange es dauert. Wenn ich den falschen Schatten aus dem Weg gehen kann, sehen wir uns dann. Wünsch mir Glück.«

»Glück«, sagte ich.

Dann ertönte ein Klicken, und ich lauschte noch eine Zeitlang dem fernen Summen und den Gespensterstimmen.

Der kecke kleine Random war also in Schwierigkeiten! Ich hatte das Gefühl, daß mir das eigentlich kein Kopfzerbrechen bereiten dürfte. Aber in meiner jetzigen Lage war er einer der Schlüssel zu meiner Vergangenheit und wahrscheinlich auch zu meiner Zukunft. Ich würde also versuchen, ihm nach besten Kräften zu helfen, bis ich erfahren hatte, was ich von ihm wissen wollte. Ich wußte, daß zwischen uns nicht gerade die stärkste Bruderliebe herrschte. Aber ich wußte auch, daß er kein Dummkopf war; er hatte Ideen und Köpfchen und reagierte auf die verrücktesten Dinge seltsam sentimental; andererseits war sein Wort nicht die Spucke wert, die er dabei verbrauchte, und er hätte meine Leiche vermutlich an die nächste Universität verkauft, wenn er genug dafür bekommen konnte. Ich erinnerte mich gut an den kleinen Schwindler – mit einem schwachen Hauch von Zuneigung, vielleicht wegen ein paar hübscher Stunden, die wir zusammen verbracht hatten. Aber ihm vertrauen? Niemals! Ich beschloß, Flora erst im letzten Augenblick zu sagen, daß er im Anmarsch war. Er mochte mir als As im Ärmel nützlich sein.

Also schüttete ich noch etwas heißen Kaffee zu den Resten in meiner Tasse und trank langsam.

Vor wem rückte er aus?

Jedenfalls nicht vor Eric, denn sonst hätte er nicht hier angerufen. Später beschäftigte mich Randoms Frage, ob Flora etwa tot war, nur weil ich zufällig hier war. War sie wirklich so sehr mit dem von mir gehaßten Bruder verbündet, daß in der Familie das Gerücht umging, ich würde sie ebenfalls umbringen, wenn ich die Chance dazu erhielt? Die Vorstellung erschien mir seltsam, aber schließlich kam die Frage von ihm.

Und was war das eigentlich, weswegen sie sich verbündet hatten? Was war die Ursache dieser Spannung, dieser Opposition? Wie kam es, daß Random auf der Flucht war?

Amber.

Das war die Antwort.

Amber. Irgendwie lag der Schlüssel zu allem in Amber. Das Geheimnis des Durcheinanders war in Amber zu finden, lag in einem Ereignis, das sich dort abgespielt hatte – vor gar nicht so langer Zeit, würde ich meinen. Ich mußte mich in acht nehmen. Ich mußte ein Wissen vortäuschen, das ich nicht besaß, während ich mir die Kenntnisse Stück um Stück von jenen holte, die Bescheid wußten. Ich war zuversichtlich, daß ich es schaffen konnte. Es gab soviel Mißtrauen ringsum, daß sich jeder vorsichtig gab. Und das wollte ich mir zunutze machen. Ich würde mir holen, was ich brauchte, und nehmen, was ich wollte; ich würde mir jene merken, die mir halfen, und die übrigen verdrängen. Denn dies, das wußte ich, war das Gesetz, nach dem unsere Familie lebte, und ich war ein echter Sohn meines Vaters . . .

Plötzlich machten sich wieder meine Kopfschmerzen bemerkbar, bohrend, pulsierend, als wollte mir die Schädeldecke zerplatzen.

Der Gedanke an meinen Vater mußte diesen Anfall ausgelöst haben, dachte ich, vermutete ich, fühlte ich . . . Aber ich wußte nicht, warum oder wie es dazu gekommen war.

Nach einer gewissen Zeit ließen die Schmerzen nach, und ich schlief im Stuhl ein. Nach einer viel längeren Zeit ging die Tür auf, und Flora trat ein. Wieder war es draußen Nacht.

Sie trug eine grüne Seidenbluse und einen langen grauen Wollrock. Ihre Füße steckten in Ausgehschuhen und dicken Strümpfen. Das Haar hatte sie hinter dem Kopf zusammengesteckt, und sie wirkte ein wenig bleich. Wie zuvor hatte sie ihre Hundepfeife bei sich.

»Guten Abend«, sagte ich und stand auf.

Aber sie antwortete nicht. Statt dessen ging sie durch den Raum zur Bar, schenkte sich einen Schuß Jack Daniels ein und kippte den Alkohol wie ein Mann hinunter. Dann machte sie sich einen zweiten Drink, den sie mit zu dem großen Sessel nahm.