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»Entschuldigung«, sagt ys. »Ich habe Hunger. Die Hormone ... ich habe mich zu sehr aufgeputscht.«

»Kann ich Ihnen einen Tee machen?«, fragt Najia. Die Heldin und Retterin braucht eine Rolle, die sie übernehmen kann.

»Chai, ja, Chai, wunderbar.«

Sie setzen sich mit den kleinen Gläsern auf die Matratze. Ys mag ihn nach europäischer Art, schwarz und ohne Zucker. Najia erschrickt über jeden Schatten auf den Rollläden.

»Ich kann Ihnen gar nicht genug danken ...«

»Ich habe gar keinen Dank verdient. Ich habe Sie schließlich erst in die Sache reingeritten.«

»Das sagten Sie schon am Bahnhof, ja. Aber wenn nicht Sie, dann hätte es jemand anders getan. Vielleicht ohne schlechtes Gewissen. War es schlechtes Gewissen?«

Najia Askarzadah war einem Neut noch nie so nahe. Sie weiß über sie Bescheid, was sie sind, welche Entwicklung sie hinter sich haben und was sie mit sich selbst machen können. Sie hat sogar eine gewisse Vorstellung, was sie aneinander genießen, und sie steht ihnen mit angemessen kühler skandinavischer Toleranz gegenüber, aber dieses Thal riecht anders. Sie weiß, dass es an den Dingen liegt, die sie mit ihren Hormonen und ihrer Neurochemie machen können, aber sie befürchtet, Thal könnte es spüren und es für Neutrophobie halten.

»Ich habe mich erinnert«, sagt sie. »Ich habe die Fotos gesehen und mich erinnert, wo ich Sie schon einmal gesehen habe.«

Thal runzelt die Stirn. Im goldenen Dämmerlicht zwischen den Gazewedeln wirkt dieser Gesichtsausdruck zutiefst fremdartig.

»Bei Indiapendent«, hilft sie ys auf die Sprünge.

Thal hält den Kopf in den Händen, schließt die Augen. Najia findet sys lange Wimpern sehr schön.

»Das alles tut mir weh. Ich weiß nicht, was ich denken soll.«

»Ich hatte Lal Darfan interviewt. Satnam hat mich herumgeführt. Satnam hat mir die Fotos gegeben.«

»Der Trishul!«, ruft Thal. »Chuutya! Er hat uns beide hereingelegt. Ai!« Ys fängt an zu zittern, Tränen treten ys in die Augen, ys hebt die Hände wie lepröse Klauen. »Meine Mama Bharat! Sie dachten, sie hätten mich erwischt ... das falsche Apartment ...« Das Zittern steigert sich zu heftigen Schluchzern, zerrissen von Erschöpfung und Schock. Najia kriecht davon und macht frischen Chai, bis sie hört, dass das Klagen und Wimmern nachlässt. Für eine Afghanin hat sie eine typisch nordeuropäische Furcht vor großen Gefühlen.

»Noch Chai?«

Thal hat sich in das Bettlaken gehüllt. Ys nickt. Das Glas zittert in sys Hand.

»Woher wussten Sie, dass ich am Bahnhof sein würde?«

»Journalistengespür«, sagt Najia Askarzadah. Sie möchte sys Gesicht berühren, sys so glatte, zarte Kopfhaut. »Ich hätte dasselbe getan.«

»Ihr Journalistengespür ist etwas sehr Mächtiges. Ich bin ein Idiot gewesen! Lächelnd und tanzend und lachend und fest davon überzeugt, dass alle mich lieben! Das neue Neut in der Stadt, das jeder unbedingt kennenlernen will, kommt zu unserer großen Party, kommt in unseren Club ...«

Najia streckt die Hand aus, um ys zu berühren, zu beruhigen und zu wärmen. Dann liegt Thal plötzlich an ihrer Brust, und ihr Kinn streift sys glatten Kopf. Es ist, als würde sie eine Katze in den Armen halten, die nur aus Knochen und Anspannung besteht. Ihre Finger gleiten über die Pusteln auf sys Arm. Sie sehen wie Reihen symmetrischer Insektenstiche aus. Najia zuckt zurück.

»Nein, bitte da«, sagt Thal. Vorsichtig drückt sie auf die Stelle, spürt, wie es unter der Haut fließt. »Und hier, bitte?« Sys Finger führen sie zu einer Stelle knapp unter sys Handgelenk. »Und hier.« Eine Handbreit unter dem Ellbogen. Das Neut erzittert in ihren Armen. Sys Atmung beruhigt sich. Sys Muskeln straffen sich. Ys erhebt sich zittrig auf die Beine, läuft nervös im Zimmer umher. Najia kann die nervöse Spannung riechen.

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie leben«, sagt Najia, »wenn Sie sich Ihre Emotionen aussuchen können.«

»Wir suchen uns die Emotionen nicht aus, nur die Reaktionen. Es ist ... sehr intensiv. Wir werden kaum älter als sechzig.« Jetzt geht Thal beunruhigt auf und ab, wie ein Mungo im Käfig, lugt durch die Lüftungslamellen, lässt sie wieder zuklappen.

»Wie konnten Sie ...?«

»Eine solche Wahl treffen? Es ist lange genug, um die Schönheit auszukosten.«

Najia schüttelt den Kopf. Eine Unglaublichkeit nach der anderen.

Thal schlägt die Fäuste gegen die Wand. »Idiot! Ich sollte sterben ich sollte sterben ich bin zu dumm zum Leben.«

»Damit stehen Sie nicht allein da. Auch ich war dumm, als ich dachte, ich hätte einen guten Draht zu N. K. Jivanjee.«

»Sie sind Jivanjee begegnet?«

»Ich habe mit ihm gesprochen, über Video, als er das Treffen arrangierte, bei dem Satnam mir die Fotos gab.«

Ein Schatten fällt auf die Jalousie vor dem Fenster. Neut und Frau erstarren. Thal lässt sich langsam sinken, bis ys unter der Höhe des Fenstersimses ist. Ys winkt Najia, sich genauso an die Wand zu drücken. Najia horcht mit dem gesamten Körper und kriecht über die Matten und durch die Gazeflächen. Dann eine Frauenstimme, die deutsch spricht. Najias Bauch entspannt sich. Einen Moment lang glaubte sie, sich vor Angst erbrechen zu müssen.

»Wir müssen aus Bharat verschwinden. Man hat Sie mit mir gesehen«, flüstert Thal. »Damit stecken wir in denselben Schwierigkeiten. Wir müssen uns ein sicheres Transportmittel besorgen.«

»Sollten wir nicht lieber zur Polizei gehen?«

»Haben Sie denn gar keine Ahnung, wie dieses Land funktioniert? Die Polizei gehört Sajida Rana, und sie will mich als Verräter schnappen, und der Teil der Polizei, der ihr nicht gehört, hält zu Jivanjee. Wir brauchen etwas, das uns wertvoll genug macht, um uns Schutz zu bieten. Sie sagten, sie hätten über Video mit Jivanjee gesprochen. Ich vermute, Sie waren intelligent genug, das zu speichern. Zeigen Sie es mir. Vielleicht finden wir etwas.«

Sie setzen sich nebeneinander an die Wand. Najia hebt ihren Palmer. Ihre Hand zittert. Thal ergreift ihr Handgelenk und beruhigt sie.

»Das ist kein sehr gutes Modell«, sagt ys.

Der Ton ist schmerzhaft laut, als Najia das Video abspielt. Draußen im Club klackern Tennisbälle. Auf dem Bildschirm wirken die wogenden Kalamkari-Tücher an N. K. Jivanjees Pavillon wie eine göttliche Umkehrung dieses düsteren, heißen Schlafzimmers voll erstickender Furcht.

»Halt! Stop! Pause!«

Najias Daumen tastet auf den Kontrollen herum.

»Was ist das?«

»Das ist N. K. Jivanjee.«

»Ich weiß, Dummerchen. Wo ist das?«

»In seinem Büro, vielleicht in seiner Privatwohnung, vielleicht sogar in seiner Rath Yatra. Ich weiß es nicht.«

»Lügen Lügen Lügen«, zischt Thal. »Ich weiß es. Das ist weder die Privatwohnung noch die Rath Yatra oder das Büro von Mr. N. K. Jivanjee. Das ist der Hochzeitssaal von Aparna Chawla und Ajay Nadiadwala für die Heirat des Jahres in Stadt und Land. Ich habe diese Kalamkaris selber designt.«

»Eine Bühnenkulisse?«

»Meine Bühnenkulisse. Für eine Szene, die noch gar nicht gedreht wurde.«

Najia Askarzadah spürt, wie sie unwillkürlich die Augen aufreißt. Sie wünscht sich, sie hätte ein subdermales Menü, das sie aufrufen könnte, um ihre lähmende Fassungslosigkeit mit einem Schuss Neurotransmittern wegzuspülen.

»Ich weiß von niemandem, der N. K. Jivanjee jemals von Angesicht zu Angesicht begegnet wäre«, sagt sie.

»Das ist unser Reisepass«, sagt Thal. »Ich muss noch einmal zu Indiapendent. Wir müssen sofort los, jetzt.«

»Sie können nicht einfach so hingehen, man würde Sie auf einen Kilometer Entfernung erkennen. Wir brauchen eine Verkleidung für Sie ...«

Dann verstummen gleichzeitig das Klackern der Tennisbälle und die Rufe der Spieler. Thal und Najia rollen quer durch den Raum, als Schatten auf die Jalousien fallen. Stimmen. Nicht deutsch. Nicht weiblich. Geduckt schiebt Najia das Moped vom Flur in die Küche. Sie hockt sich auf einer Seite daneben, Thal auf der anderen. Sie wissen, worauf sie warten müssen, aber trotzdem ist das Warten fürchterlich. Klick klick. Dann explodiert das Schlafzimmer in automatischem Feuer. Im gleichen Moment lässt Najia den kleinen Alkoholmotor aufheulen und wirft sich auf den Sitz. Thal steigt hinter ihr auf. Der Kugelhagel nimmt kein Ende. Nicht zurückblicken. Man darf nie zurückblicken. Sie weicht Bernards Klapptisch aus, öffnet die Hintertür und rast auf die mit Buschwerk bewachsene Fläche hinter der Bar hinaus. Kellner blickten auf, als sie sich zwischen den Kisten mit Kingfisher und Schweppes-Mixgetränken hindurchschlängelt.