»Aus dem Weg, verdammt!«, schreit Najia Askarzadah. Sie zerstreuen sich wie Elstern. Aus den Augenwinkeln nimmt sie zwei dunkle Gestalten wahr, die um die Ecke des Flügels mit den Zimmern kommen — Gestalten, die etwas mit den Händen machen. »Oh Gott!«, betet sie und fährt mit dem Moped drei Betonstufen hinauf in die Clubküche. »Weg da weg da weg da!«, brüllt sie, während sie um die Kühlschränke aus rostfreiem Stahl in der Größe von Kampfpanzern kurvt, um die Säcke mit Reis und Dal und Kartoffeln und um die Köche mit Tabletts und Messern und heißem Fett. Sie kommt auf einem Fleck aus verschüttetem Ghee ins Schleudern, kracht durch die Schwingtür und fährt durch den Speisesaal, an der ordentlichen Reihe der gedeckten Tische entlang, hupt ein Paar mit Surfer-T-Shirts und Sonnenbrillen im Partnerlook an und schießt in den Korridor. Im Hauptsaal ist ein Yoga-Abendkurs im Gange. Najia und Thal rollen mitten hindurch, mit wütend quäkender Hupe, während um sie herum die Sarvangasana-Kerzen wie ein gefällter Wald umstürzen. Durch die Terrassentür — die ständig geöffnet ist, um die Frauen in Baumwoll-Lycra mit Frischluft zu versorgen —, über die ausgedörrten Blumenbeete und durch das Haupttor in die sichere Anonymität des frühabendlichen Stoßverkehrs. Najia lacht. Donner antwortet ihr gleich einem Echo.
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Mr. Nandha
Mr. Nandhas Präsentation der Ermittlungen gegen Kalki hat die Form einer Kugel, die in der Hoek-Sicht der Abteilungsleiter schwebt, gleichzeitig klein genug, um unter die Kuppe eines menschlichen Schädels zu passen, und groß genug, um den Glasturm des Ministeriums zu umschließen wie eine Faust eine Orchideenblüte. Sie rotiert vor dem geistigen Auge von Commissioner Arora und Director General Sudarshan und bringt immer neue Informationslandschaften in ihr Blickfeld. Eine kontinentgroße Stadtansicht aus Seiten und Fenstern und Bildern und Rahmen öffnet sich zu einer zweidimensionalen Datenlandkarte. Saraswati lautet der Name der kommentierenden Kaih, die Göttin der Sprache und der Kommunikation. Über einem leuchtenden Diagramm des Informationssystems von Tikka-Pasta Inc. verfolgt Saraswati die unlizensierte Kaih zurück bis zum neuralen Sprudeln Kashis, arbeitet sich dann eine fraktale Ebene nach der anderen hinauf bis zu den verwischten Dendriten des Localnet von Janpur, Malaviri-Knoten, Subadresse Jashwant der Jain (all seine kleinen Cyberköter sind geisterhafte Skelette, an denen Aktoren und Chipsets hängen, während Jashwant selbst ein schlaffer blauer Sack aus nackter Haut ist). Das nächste Informationsfenster zeigt Aufnahmen der Tatortsicherung von der ausgebrannten Hülle des Badrinath-Sundarban. Die Hovercam schwebt durch schwarz verkohlte Zimmer, hängt einen Moment lang über den halb entfleischten Toten, den wie Kerzen geschmolzenen Prozessorgehäusen und Mr. Nandha, der mit seiner Stifttaschenlampe in den Waschbeckenunterschrank blickt. Zwei zusammengekauerte Kohleklumpen entfalten sich zu lebenden, lächelnden Passbildfotos von Westlern: Jean-Yves Trudeau, Annency, Frankreich, Europäische Union, * 15.04.2022, und Anjali Trudeau, geb. Patil, Bangalore, Karnataka, * 25.11.2026.
»Jean-Yves und Anjali Trudeau waren ehemalige Forscher an der Universität von Strasbourg in der Abteilung Künstliches Leben des Instituts für Computerwissenschaft. In den vergangenen vier Jahren waren sie wissenschaftliche Mitarbeiter auf dem Campus der University of Bharat in Varanasi in der Fakultät für Computerwissenschaft unter Professor Chandra, der auf die Anwendung von darwinistischen Paradigmen auf Proteinmatrix-Schaltungen spezialisiert ist«, erklärt Saraswati. Ihre Stimme ist Kalpana Dhupia aus Stadt und Land entlehnt.
Die Trudeaus reißen sich von ihrem Quadranten der Sphäre los und schweben im stationären Orbit. In einem Videofenster erscheinen die schlecht aufgelösten, körnigen Bilder vom Innern eines Apartments. Im Vordergrund ein nackter achtzehnjähriger Mann mit einer halben Erektion in der rechten Hand. Er lehnt sich zurück und zielt auf die Mitte des Bildes. Idiotisches Grinsen im Gesicht. In mittlerer Entfernung die Shanti Rana Apartments, mittlere Höhe, mit offenem Fenster. Balkon, etwas Wäsche. Auf der anderen Seite der Straßenschlucht Apartmentfenster und die rostigen Kästen der Klimaanlagen. Ein weißer Pfeil schießt durch die Außenszene. Dann füllt sich der Fensterrahmen mit einem donnernden Feuerball. Mr. Masturbator wirbelt herum, kreischt etwas, das die digitale Kompression des Kameramikros überfordert. Standbild eines mageren Hinterns vor explodierendem Gas und Flammen, die linke Hand greift nach einem Seidentuch.
»Das Krishna-System hat sämtlichen Netzverkehr in der Umgebung eine Stunde vor und nach dem Anschlag zurückverfolgt«, erklärt Saraswati in freundlichem Tonfall. »Diese Webcam-Aufnahmen, die wir einer glücklichen Fügung verdanken, stammen aus einer Wohnung, die dem Tatort genau gegenüberliegt.« Der Film wird zum weißen Blitz zurückgespult, dann wird ein Ausschnitt des Standbilds vergrößert, bis nur noch eine Ansammlung von Pixeln zu sehen ist. Doch die Bildbearbeitung verschärft und verwischt die Graustufenquadrate zu einer Flugmaschine, einem weißen Vogel mit nach oben gerichteten Flügeln, Stabilisierungsflosse und knollenartigem Mantelpropeller im Bauch. Eine Grafikroutine zeichnet einen Umriss, stellt das Bildelement frei, rendert es und morpht es zum idealisierten Kriegsporno-Pin-up einer Ayappa-Luftabwehrdrohne, Bharati-Lizenzversion, mit Infrarotlaser bewaffnet.
Datenblätter mit wallenden Manifesten werden eingeblendet, die die unerklärliche Lücke in den militärischen Aufzeichnungen demonstrieren, während die Luftabwehrdrohne 7132 den Badrinath-Sundarban angegriffen hat. Mr. Nandha beobachtet die beeindruckenden Darstellungen, aber in Gedanken ist er bei Professor Naresh Chandra, der aufrichtig bestürzt reagierte, als er erfuhr, dass seine Forschungskollegen gestorben waren. Die meisten seiner Mitarbeiter waren als externe Berater tätig, weil die Forschung nur so finanziert werden konnte — aber für ein Sundarban? Widerstandslos hatte er ihr Büro geöffnet. Mr. Nandha hatte bereits die Spurensicherung angefordert. Er hatte an den vielen Kaffeedosen geschnuppert — eine andere Mischung für jede Gelegenheit, wie es schien —, während die Krishna Cops sich die Unterlagen ansahen. Mr. Nandha wünschte sich sehr, er könnte Kaffee trinken, ohne dabei das Gefühl zu haben, dass sich sein Magen auflöst. Nach zehn Minuten hatten sie die Verbindung gefunden.
Graphiken können überwältigend und verführerisch sein, aber jedes gute Plädoyer erreicht einen Punkt, an dem Maschinen versagen und die Anklage auf menschliche Dramatik zurückgreifen muss. Mr. Nandha zieht ein seidenes Taschentuch aus seiner Nehru-Jacke und entfaltet es. Er hält das verkohlte Bildnis eines sich aufbäumenden weißen Pferdes hoch.
»Kalki«, sagt er. »Der zehnte Avatar Vishnus, mit dem das Zeitalter Kalis endet. Ein angemessener Name, wie wir sehen werden, wegen des unheiligen Bündnisses zwischen einem Privatunternehmen — Odeco —, der Universität und dem Badrinath-Sundarban. Sogar Ray Power erhält Forschungsmittel von Odeco. Aber was ist Odeco eigentlich?«
Hinter ihm entfaltet sich der virtuelle Globus zu einer Mercator-Projektion des Planeten Erde. Städte, Nationen, Inseln erheben sich von der Oberfläche, als wären sie von der Gravitation befreit. Blaue Linien schießen zwischen ihnen hin und her, reichen in hohem Bogen bis in die Stratosphäre. Es sind die Wege des Geldes, die verschachtelten Mantelgesellschaften, die Briefkastenfirmen, die Holdinggruppen und die Trusts. Das Lichtnetz hüllt die Landkarte ein, die Projektion krümmt sich wieder zu einer Sphäre, während ein Lichtstrahl von den Seychellen aufsteigt und in einer ballistischen Kurve auf Varanasi zustürzt, ein invertiertes Jyotirlinga, das schöpferische Licht Shivas, das aus der Erde von Kashi hervorbrach und nun nach einer Reise um die Krümmung des Universums herum dorthin zurückkehrt.