»Wenn es hier jemals eine Gen-Drei gegeben hat, ist sie längst verschwunden«, sagt er. »Moment mal ... schauen Sie sich das an! Unser Freund Vishram Ray.«
»Sir.« Madhvi Prasad an einem anderen Bildschirm. Sie zieht zwei Bürostühle mit abgebrochenen Rückenlehnen heran.
Mr. Nandha setzt sich neben sie. Seine Socken quietschen in seinen Schuhen, und die Entwürdigung lässt ihn zusammenzucken. Es ist schlecht, die wichtigsten Ermittlungen seiner Karriere in quietschenden Baumwollsocken durchzuführen. Noch schlimmer ist es, von einem aalglatten Bangla-Anwalt als Witzbold bezeichnet zu werden. Doch das Allerschlimmste ist der Vorwurf, kein Mann zu sein, ein schwanzloser Hijra, in der eigenen Küche, unter dem eigenen Dach, von der Mutter der eigenen Ehefrau, von einer verhutzelten Witwe vom Lande. Mr. Nandha verdrängt das Gefühl der Demütigung. Die nackten Sadhus, die im Regen tanzen, ertragen viel mehr für viel weniger.
»Was wollen Sie mir zeigen?«, fragt Mr. Nandha.
Prasad dreht den Monitor zu ihm herum.
Ein strahlender Morgen am neuen Ghat von Patna. Fähren und Tragflügelboote drängen sich am Rand des Bildes, Geschäftsleute und Arbeiter bevölkern den Hintergrund, und ganz hinten glitzern die Türme des neuen Commercial Bund im östlichen Licht. Im Vordergrund stehen drei lächelnde Personen. Die eine ist Jean-Yves Trudeau, die andere seine Frau Anjali. Sie haben die Arme um eine dritte Person gelegt, die zwischen ihnen steht, ein Mädchen, um die achtzehn Jahre alt, mit einer hellen Bräune wie in einer idealen Heiratsannonce. Sie ist einen Kopf kleiner als die Westler, aber sie zeigt ein strahlendes Lächeln, trotz des rasierten Schädels, an dem Mr. Nandha die haarfeinen Narben einer kürzlich erfolgten Operation erkennt.
Mr. Nandha beugt sich näher heran. Der Regen hat ihn ausgekühlt, und sein Atem dampft im blauen Schein der provisorischen Beleuchtung.
»Das ist es, was wir zerstören sollten.« Er tippt mit dem Finger auf das Gesicht des Mädchens. »Sie hier ist noch am Leben.«
39
Kunda Khadar
Zehn Tage lang haben die langsamen Drohnen das flache, versengte Land im Westen Bharats überquert. Noch während die Awadhi-Garnison in Kunda Khadar vor den Bharati-Jawans floh, starteten die Artillerieeinheiten auf einer Achtzig-Kilometer-Front etwa zwei- bis dreihundert autonome Roboter aus den kurzen zylindrischen Silos. Jeder trägt eine Ladung aus zehn Kilogramm Hochleistungssprengstoff und hat die Größe und Form einer kleinen, muskulösen Katze. Tagsüber schlafen sie in Bodensenken oder Stapeln aus trocknenden halbmondförmigen Dung-Ladhus. Wenn die Nacht anbricht, fahren sie ihre Antennen aus und richten sie auf den Mond, entfalten ihre Metallbeine und schleichen sich über Felder und durch ausgetrocknete Gräben, mit katzenhafter Verstohlenheit, vom Licht des Mondes und dem leisen Zirpen ihres GPS gesteuert. Lastwagenscheinwerfer lassen sie erschrecken und erstarren — sie verlassen sich auf ihre rudimentäre Tarnexistenz. Niemand sieht oder hört sie, auch wenn sie sich nur Zentimeter entfernt an dem Traktor-Mechaniker vorbeistehlen, der auf seinem Charpoy schläft. Wenn der erste Brahmane an den Ufern des heiligen Ganges die Sonne begrüßt, haben sie sich in den Sand eingegraben oder sich im Rauch und Schatten an die Dachsparren eines Tempels geklammert oder sich auf den Boden des Wassertanks eines Dorfes sinken lassen. Es sind Kaihs der Stufe 1,4, aber ihre Brennstoffzellen arbeiten mit einer Methanreaktion auf Wolfram-Basis. Sie ziehen quer durch Bharat und navigieren sich von einem Kuhfurz zum nächsten.
In den späten Abendstunden eines Juli-Tages erreichen die langsamen Drohnen ihr Ziel. Während der vergangenen zwei Nächte haben sie sich durch Stadtstraßen bewegt, an den Mauern von Vorstadtgärten entlang, wo sie jagende Katzen erschreckten, sind von Dach zu Dach über die schmalen Gassen der Innenstadt gesprungen, von Balkon zu Balkon, lautlos und dunkel durch die Stadt huschend, um sich schließlich in Zweier- oder Dreiergruppen zusammenzufinden, dann in Zehner- und Hunderterscharen, eine Armee aus Plastikpfoten und Schnurrhaarantennen, die von den Pariahunden wütend angebellt werden. Aber keine der Katzen lässt sich vom Bellen der Hunde stören.
Um zehn Uhr dreißig infiltrieren zweihundertzwanzig langsame Drohnen sämtliche Hauptsysteme der Elektrizitätsverteilerstation von Ray Power in Allahabad und detonieren gleichzeitig. Im westlichen Bharat von Allahabad bis zur Grenze fällt der Strom aus. Komverbindungen verstummen. Kontrollzentren werden von der Umwelt abgeschnitten und mühen sich ab, ihre Notfallsysteme hochzufahren. Bodenstationen für Satelliten sind blind. Die Luftabwehr schaltet auf Reserve um. Es dauert drei Minuten, bis die Notstromaggregate laufen. Die Wiederherstellung der Kommunikationsverbindungen und Befehlsketten beansprucht weitere zwei Minuten. Und es vergehen noch einmal drei, bis in Bharat wieder volle Verteidigungsbereitschaft erreicht ist.
In diesen acht Minuten morphen einhundertfünfzig Awadhi-Truppentransporthubschrauber aus der Tarnung, unterstützt von Kaih-Bodenkampffahrzeugen, und entladen Infanterie und leicht mechanisierte Einheiten fünf Kilometer innerhalb der Bharati-Grenze. Während sich Truppentransporter durch Grenzdörfer wühlen und Mörserstellungen errichtet werden, rücken schwer bewaffnete Einheiten mit Luftunterstützung vor und nähern sich dem nördlichen Ende des Damms. Gleichzeitig überqueren zwei Panzerdivisionen die nur leicht geschützte Grenze bei Rewa und stoßen über die Straße nach Jabalpur in Richtung Allahabad vor.
Als die Reservesysteme hochgefahren und die Befehlsstruktur und die Geheimdienstkommunikation wiederhergestellt sind, starren die Artilleriestellungen im Westen von Bharat in die Läufe von Franks-Kampfpanzern, während Scharen von Rattenrobotern die defensiven Minenfelder ausschalten und die erste Mörsersalve mit unheimlichem Pfeifen auf den Kunda-Khadar-Damm niedergeht. Umzingelt, abgeschnitten von der Befehlskette und schutzlos vor der Luftübermacht, während alle Verstärkungskräfte in Allahabad gebunden sind, kapituliert General Jha. Fünftausend Soldaten legen ihre Waffen nieder. Es sind die ruhmreichsten acht Minuten in der Militärgeschichte von Awadh. Und die schmachvollsten für Bharat.
Um zehn Uhr vierzig funktionieren die Mobilfunknetze wieder. Nach zehn Minuten klingeln überall im regengeplagten Varanasi die Palmer.
40
Vishram
Unter Anleitung des alten Ram Das trägt das Außenpersonal die Gartenmöbel unter den Schutz der weiträumigen Veranden des Shanker Mahal. Vishram geht an einer Reihe aus weiß gestrichenem Gußeisen und Korbgeflecht vorbei, die den Rasen überquert. Seine Mutter sitzt allein am entgegengesetzten Ende des Gartens, eine kleine blasse Frau an einem kleinen weißen Tisch, der sich hell vor der dunklen Wand des Monsuns abzeichnet. Wie eine britische Witwe wird sie warten, bis der Sturm sie erreicht hat, bevor sie sich aus ihrer Redoute zurückzieht. Vishram erinnert sich fast nur so an sie, auf dem Rasen, an einem weißen Tisch, unter ihrer Sonnenschirmstaffel, mit ihren Ladys und dem Chai auf einem Silbertablett. Schon immer hat Vishram das Haus am meisten während des Regens geliebt, wenn es unbeschwert vor dem Grün und den schwarzen Wolken zu schweben schien. Dann wurden seine dehydrierten Geister wieder zum Leben erweckt, und in seinem Zimmer war ihr Knacken und Knarren zu hören. In dieser Saison riecht Shanker Mahal nach altem Holz und Feuchtigkeit und Wachstum, als wollten die Pflanzenmuster an der Decke seines Schlafzimmers Knospen austreiben und erblühen. Die verschlungenen Figuren an den Säulen und Balken entspannen sich im Regen.
»Vishram, mein Vogel. Dieser Anzug steht dir sehr gut.«
Er ruft den letzten Gartenstuhl mit einem gekrümmten Zeigefinger zurück. Wetterleuchten schimmert hinter den Ashokbäumen. Und hinter ihnen schneiden Scheinwerfer durch die Finsternis.