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Vishram findet seinen Vater in einem schwarzen fensterlosen Nebentempel. In der Finsternis wäre er fast über ihn gestolpert. Vishram streckt die Hände aus, um sich abzustützen, zieht sie sofort wieder vom Sims zurück. Sie sind feucht. Blut. Der Boden ist mit einer Ascheschicht bedeckt. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, erkennt er eine rechteckige Grube mitten im Raum. Smasana-Kali ist auch die Göttin der Ghats. Dies ist ein Kremationshaus. Ranjit Ray hockt im Schneidersitz in der Asche. Er trägt den Dhoti, den Schal und die rote Kali-Tilaka des Sadhu. Seine Haut ist grau von Vibhuti, die heilige weiße Asche bedeckt sein Haar und die Bartstoppeln. Für Vishram ist dies nicht sein Vater, sondern ein Wesen, das man neben einem Straßenschrein sitzen sieht, das sich nackt in einem Tempeleingang ausstreckt, ein Alien aus einer fremden Welt.

»Vater?«

Ranjit Ray nickt. »Vishram. Setz dich, setz dich.«

Vishram blickt sich um, aber hier ist überall Asche. Wahrscheinlich ist es sehr weltlich, sich wegen seines Anzugs Sorgen zu machen. Andererseits ist er weltlich genug, um zu wissen, dass er sich einen neuen besorgen kann. Er setzt sich neben seinen Vater. Donner erschüttert den Tempel. Die Glocken tönen, die Gläubigen beten.

»Vater, was machst du hier?«

»Die Puja für das Ende eines Zeitalters.«

»Hier ist es schrecklich.«

»So soll es auch sein. Aber das Auge des Glaubens sieht anders, und mir kommt es gar nicht so schrecklich vor. Es ist richtig. Passend.«

»Zerstörung?«

»Transformation. Tod und Wiedergeburt. Das Rad dreht sich.«

»Ich kaufe Ramesh seinen Anteil ab«, verkündet Vishram, der barfuß in der Asche der Toten hockt. »Damit habe ich die Firma zu zwei Dritteln unter Kontrolle und kann Govind und seine westlichen Partner vergraulen. Ich frage dich nicht, ich sage es dir.«

Vishram sieht eine Spur der alten Weltlichkeit in den Augen seines Vaters aufflackern.

»Ich bin mir sicher, dass du dir denken kannst, woher ich das Geld habe.«

»Von meinem guten Freund Chakraborty.«

»Du weißt, wer — beziehungsweise was — hinter ihm steht?«

»Ja.«

»Wie lange weißt du es schon?«

»Von Anfang an. Odeco nahm Kontakt mit mir auf, als wir das Nullpunktprojekt starteten. Chakraborty war bewundernswert direkt.«

»Es war ein verdammt großes Risiko. Wenn die Krishna Cops es herausgefunden hätten ... Ray Power, Energie mit gutem Gewissen, Respekt vor der Erde und all das?«

»Darin sehe ich keinen Widerspruch. Es sind lebende Geschöpfe, intelligente Geschöpfe. Wir sind es ihnen schuldig, sie fürsorglich zu behandeln. Einige Vertreter der Grameen-Banken ...«

»Geschöpfe. Du hast sie als Geschöpfe bezeichnet.«

»Ja. Es scheint drei Kaihs der Generation Drei zu geben, aber ihre subjektiven Universen müssen sich nicht zwangsläufig überlappen, auch wenn sie vielleicht einige Subroutinen gemeinsam haben. Ich glaube, Odeco ist für mindestens zwei von ihnen ein Kommunikationskanal.«

»Chakraborty bezeichnete die Odeco-Kaih als Brahma.«

Ranjit Rays Gesicht zeigt ein dezentes wissendes Lächeln.

»Bist du Brahma jemals begegnet?«

»Vishram, welchem Aspekt hätte ich begegnen sollen? Ich bin Männern in Anzügen begegnet, ich habe mit Gesichtern telefoniert. Vielleicht waren die Gesichter real, vielleicht waren sie Brahma, Manifestationen dieses Wesens. Kann man auf sinnvolle Weise einer dezentralisierten Entität begegnen?«

»Haben sie dir jemals gesagt, warum sie das Nullpunktprojekt finanzieren wollen?«

»Du würdest es nicht verstehen. Ich verstehe es nicht.«

Blitze erhellen für einen Moment das Innere der Kremationskammer. Der Donner folgt hart und schwer. Seltsame Windböen wirbeln die Asche auf.

»Sag es mir.«

Vishrams Palmer klingelt. Verärgert zieht er eine Grimasse. Die Gläubigen starren ihn an, empört über die lästerliche Störung im Allerheiligsten. Ein Anruf höchster Priorität. Vishram stellt auf nur Audio. Nachdem Marianna Fusco verstummt ist, steckt er das kleine Gerät in eine Innentasche.

»Vater, wir müssen jetzt gehen.«

Ranjit Ray runzelt die Stirn. »Ich verstehe nicht, was du sagst.«

»Wir müssen sofort aufbrechen. Hier ist es nicht mehr sicher. Die Awadhis haben den Kunda-Khadar-Damm besetzt. Unsere Soldaten haben kapituliert. Zwischen ihnen und Allahabad ist der Weg frei. Sie könnten in vierundzwanzig Stunden hier sein. Vater, du musst mitkommen. Im Flugzeug ist genügend Platz. All das muss jetzt aufhören. Du bist ein bedeutender Mann von internationalem Ruf.«

Vishram steht auf und streckt seinem Vater eine Hand entgegen.

»Nein, ich werde nicht mitkommen und mich wie eine altersschwache Witwe von meinem eigenen Sohn herumkommandieren lassen. Ich habe meine Entscheidung getroffen, ich bin fortgegangen, und ich werde nicht mehr zurückkehren. Ich kann nicht mehr zurück, denn dieser Ranjit Ray existiert nicht mehr.«

Vishram schüttelt verzweifelt den Kopf. »Vater.«

»Nein. Mir wird nichts geschehen. Das Bharat, das sie besetzt haben, ist nicht mehr das, in dem ich lebe. Sie können mich nicht erreichen. Geh. Na los, geh schon.« Er stößt gegen die Knie seines Sohns. »Es gibt wichtige Dinge, die du tun musst. Also geh. Dir darf nichts geschehen. Ich werde für dich beten, du wirst in Sicherheit sein. Jetzt geh.« Ranjit Ray schließt die Augen, sein Gesicht wird blind und taub.

»Ich werde zurückkommen ...«

»Du wirst mich nicht finden. Ich will nicht gefunden werden. Du weißt, was du tun musst.« Als Vishram sich unter dem blutbeschmierten Türsturz duckt, ruft sein Vater ihm hinterher: »Ich wollte es dir sagen. Was sich Odeco, Brahma, die Kaih vom Nullpunktprojekt erhoffen. Einen Ausweg. Irgendwo dort draußen in all den Mannigfaltigkeiten der M-Stern-Theorie gibt es ein Universum, wo sie und ihresgleichen existieren können, wo sie frei und sicher leben können, wo wir sie nie finden werden. Und das ist der Grund, warum ich hier in diesem Tempel bin. Weil ich Kalis Gesicht sehen möchte, wenn ihr Zeitalter zu Ende geht.«

Der Regen fällt gleichmäßig, als Vishram den Tempel verlässt. Der Marmor ist glitschig von Wasser und Staub. Auf den schmalen Wegen rund um den Tempel drängen sich immer noch die Menschen, aber die Stimmung hat sich verändert. Es ist nicht mehr der Eifer religiöser Verehrung, aber auch nicht die gemeinsame Jubelfeier, weil es endlich über der ausgedörrten Stadt regnet. Die Nachricht über die Demütigung von Kunda Khadar hat sich verbreitet, und in den Galis wimmelt es von Brahmanen und Witwen in Weiß und Kali-Verehrern in Rot und wütenden jungen Männern in Markenjeans und sehr frischen Hemden. Sie starren auf Fernsehbildschirme oder reißen Papierstreifen aus Druckern oder sammeln sich um Rikscha-Radios oder Jungen, die mit ihren Palmern die jüngsten Neuigkeiten abrufen. Der Lärm in den Straßen steigert sich, als die Nachrichten sich zu Gerüchten und weiter zu Falschinformationen und Slogans verdünnen. Die tapferen Jawans von Bharat besiegt. Der Ruhm Bharats wurde in den Schmutz getreten. Awadhi-Divisionen fahren bereits auf der Ringstraße um Allahabad. Eine Invasion des heiligen Bodens. Wo ist die Rettung? Wer wird Rache nehmen? Jivanjee Jivanjee Jivanjee! Krieger-Karsevaks marschieren los, um die Invasoren mit einer Flutwelle aus ihrem eigenen Blut fortzuschwemmen. Die Shivaji wird die Schande der Ranas wiedergutmachen.

»Wo ist dein Vater?«

Rikscha-Fahrer schieben sich um Vishram herum, als er seine Schuhe anzieht.

»Er will nicht mitkommen.«

»Damit habe ich auch nicht gerechnet, Mr. Ray.« Seltsam, diese Worte von Shastri zu hören. Mister und Ray.