Eine halbe Million Kubikkilometer Lava strömen aus einem Magmaplume, der durch den Erdmantel hochkocht, an einer Stelle, an der sich fünfundsechzig Millionen Jahre später die Insel Réunion befindet. Der Mount St. Helens spuckte lediglich einen einzigen Kubikkilometer aus, als er den Pazifischen Nordwesten erschütterte. Eine halbe Million Mount St. Helens. Wenn man sie ensprechend verteilte, würden sie die Bundesstaaten Washington und Oregon zweitausend Meter hoch mit flüssigem Basalt überfluten. Der Dekkan-Trapp bildete eine zwei Kilometer hohe Schicht über Zentralindien, während der Subkontinent auf die asiatische Landmasse zuraste (nach geologischen Maßstäben), um schließlich in der frontalen Kollision den mächtigsten Gebirgszug der Erde aufzufalten. Das freigesetzte CO2 überforderte sämtliche Kohlenstoffspeichermechanismen und läutete das Ende der Kreidezeit ein. Das Leben auf der Erde stand bereits mehrere Male am Abgrund. Alterre hätte keine alternative Evolution erlebt, wenn es keine Ursachen für Massenaussterben wie Vulkanismus, Polsprünge und Meteoriteneinschläge gäbe. Das Spielzeug der Champions im Gottesspiel. Was Lisa Durnau so große Angst macht, ist gar nicht die Tatsache, dass der Trapp ausgebrochen ist. Es ist die Tatsache, dass die Lavaströme in der realen Welt niemals bis zur Indus-Ganges-Ebene gekommen sind. In Alterre wird Varanasi unter einer dicken Schicht aus glühendem Basalt begraben.
Lisa steigt in die Gottesperspektive empor. Ein Finger des schlechten Gewissens aus ihrer kirchlichen Kindheit zeigt anklagend auf sie, als sie hoch über dem Australo-Indischen Ozean kreist. So gut war der Blick aus dem realen Weltraum nie. Europa ist ein Bogen aus Inseln und Halbinseln an der westlichen Krümmung des Planeten, Asien eine nordwärts treibende Landmasse. Nordasien brennt. Aschewolken verdecken den halben Kontinent. Die Feuer erhellen die Nachtseite von Alterre. Lisa Durnau ruft ein Datenfenster auf. Sie stößt einen leisen, wortlosen Schrei aus. Auch der Sibirische Trapp bricht aus.
Alterre liegt im Sterben, gefangen zwischen den Bränden in der Kopf- und Hüftregion. Das in der Kruste gebundene Kohlendioxid, das durch den gashaltigen Basalt freigesetzt wird, verbindet sich mit dem Kohlenstoff der brennenden Wälder und führt zu einem dramatischen Treibhauseffekt, der die Temperatur der Atmosphäre und der Ozeane weit genug ansteigen lässt, um die Clathrate platzen zu lassen. Methan, das in Eiskammern tief unter dem Meer eingeschlossen ist, gelangt in einem gigantischen Gasausbruch ins Freie. Die Ozeane werden wie eine fallen gelassene Dose mit Sodawasser kochen. Der Sauerstoffanteil sinkt, während die Temperaturen steigen. Die Photosynthese in den Ozeanen kommt zum Erliegen. Die Meere werden zu Kloaken aus verrottendem Plankton.
Das Leben könnte einen Zusammenbruch überstehen. Die Erde hat den Chixclub-Einschlag und die resultierende Dekkan-Schmelze auf der anderen Seite überlebt, allerdings auf Kosten von fünfundzwanzig Prozent aller Spezies. Die Eruption des Sibirischen Trapps vor zweihundertfünfzig Millionen Jahren hatte das reichhaltige Leben des Perm beendet und zum Aussterben von fünfundneunzig Prozent aller Organismen geführt. Das Leben hatte sich über den Abgrund gerettet und war zurückgekehrt. Zwei Eruptionen zur gleichen Zeit bedeuten das Ende der Biologie auf der Erde.
Lisa Durnau muss zusehen, wie ihre Welt untergeht.
Das ist nicht natürlich. Das ist ein gezielter Angriff. Thomas Lull hatte Alterre mit einem robusten Immunsystem konstruiert, um es vor den unvermeidlichen Hacks zu schützen. Damit ein Angreifer an den Kaihs vorbeikommt, die die geophysikalischen, ozeanologischen und klimatologischen Systeme steuern, muss er Zugriff auf die zentralen Register haben. So etwas kann nur ein Insider.
Lisa Durnau zieht sich aus Alterre zurück auf die Terrasse des Haveli im Sommerregen. Sie zittert. In London ist Lisa Durnau einmal vor dem Eingang zur Metro ausgeraubt worden. Es war kurz und heftig, aber nicht besonders brutal abgelaufen. Einfach nur schnell und geschäftsmäßig: ihr Bargeld, ihre Karten, ihr Palmer, ihre Schuhe. Bevor es ihr richtig bewusst wurde, war es auch schon vorbei. Sie hatte das Verbrechen mit dumpfer Fügsamkeit über sich ergehen lassen, fast in der Rolle eines wissenschaftlichen Beobachters. Erst anschließend kam die Angst, das Zittern, die Wut, die Empörung über das, was man ihr angetan hatte, und über ihre völlige Passivität während des Geschehens.
Hier war eine ganze Welt überfallen und ausgeraubt worden.
Die Verbindung zum Institut steht fast schon, bevor ihr klar wird, was geschieht. Lisa Durnau wischt die Adresse weg, klappt die Lade zu und schiebt sie wieder in die Tasche. Sie darf ihre Deckung nicht verlassen. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Und sie sieht ihn, Thomas Lull, wie er sich über den Rezeptionstresen beugt, nach seinem Schlüssel fragt, mit tropfnassem Surferhemd und weiten Shorts und glatt anliegendem Haar, während sich unter ihm auf dem weißen Marmor kleine Pfützen ausbreiten. Er hat sie nicht gesehen. Für ihn ist sie einen halben Planeten entfernt auf irgendeinem Hügel in Kansas. Lisa Durnau will gerade seinen Namen rufen, als die zwei Männer in den billigen Anzügen und Sandalen aufstehen und zum Tresen hinübergehen. Einer zeigt Thomas Lull etwas, das er in der Hand hält. Der andere legt ihm eine Hand auf die Schulter. Er blickt verstört und verwirrt auf, dann öffnet der erste Mann einen großen schwarzen Regenschirm, und zu dritt hasten sie durch den nassen Garten zum Tor, wo in einer Wolke aus Spritzwasser ein Polizeiwagen vorgefahren ist.
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Lull
Es ist das Spiel mit dem guten und dem bösen Bullen. Man befindet sich in einem Verhörzimmer. Es könnte auch eine Gefängniszelle sein, ein Beichtstuhl oder eine Folterkammer. Es kommt nur darauf an, dass man nicht hört oder sieht, was draußen vor sich geht. Man weiß nur das, was die Polizisten einem sagen. Es gibt einen Komplizen in einem identischen Zimmer. Denn man ist eines Verbrechens angeklagt.
Also schleppt man einen in dieses grüne Verhörzimmer, in dem es nach Farbe und Desinfektionsmittel riecht. Sehen Sie Ihren Kumpel/Spießgesellen/Lebenspartner da drüben? Sobald das Band lief, hat er/sie alles ausgeplaudert und Sie verraten. Diese Entscheidung muss man treffen. Sie könnten die Wahrheit sagen. Es könnte aber auch ein Trick sein, damit man seinen Partner verpfeift. Man weiß es nicht, und die Polizisten werden es einem nicht sagen. Sie sind böse. Dann lassen sie einen schmoren und gönnen einem nicht einmal eine Tasse Kaffee.
Man muss die Sache folgendermaßen sehen. Man streitet alles ab, und auch der Kumpel/Spießgeselle/Lebenspartner streitet alles ab, und dann lässt man vielleicht beide laufen. Wegen unzureichender Beweise. Wenn beide gestehen, sind die Polizisten vielleicht gar nicht so böse, weil Polizisten nichts mehr hassen als Papierkram und man ihnen soeben eine Menge davon erspart hat, so dass sie auf Haftverschonung drängen. Oder man streitet alles ab, und der/die in der anderen Zelle verrät einen. Kumpel kommt frei, und alles bleibt an einem selber hängen. Wie soll man sich entscheiden? Man ist auf die Antwort gekommen, bevor ihre Schritte das andere Ende des Korridors erreicht haben. Man hämmert gegen die Tür. He, he, kommen Sie zurück! Ich will Ihnen alles sagen!
Das Spiel heißt Gefangenendilemma. Es macht nicht so viel Spaß wie Blackjack oder Dungeons and Dragons, aber es ist ein Werkzeug, das KL-Forscher benutzen, um komplexe Systeme zu untersuchen. Wenn man es lange genug spielt, kommen alle möglichen menschlichen Wahrheiten ans Licht. Langfristig gut, kurzfristig böse. Behandle sie, wie du behandelt werden möchtest, und wenn nicht, behandle sie so, wie sie dich behandeln. Thomas Lull hat vielleicht eine Million Mal Gefangenendilemma und jede Menge ähnlicher Spiele angewendet, die auf begrenzten Informationen basieren. Doch es ist ziemlich schwierig, sie in einer realen Situation umzusetzen.