Das Zimmer ist grün und riecht nach Desinfektionsmittel. Außerdem müffelt es nach Schimmel, altem Urin, heißem Ghee und Feuchtigkeit von den Hemden der nassgeregneten Polizisten. Es sind keine guten Bullen, es sind auch keine bösen Bullen, es sind einfach nur Polizisten, die lieber Feierabend machen und nach Hause zu ihren Frauen und Kindern gehen würden. Einer schaukelt ständig auf seinem Stuhl vor und zurück und sieht Thomas Lull mit hochgezogenen Augenbrauen an, als würde er auf eine Epiphanie warten. Der andere überprüft immer wieder seine Fingernägel und macht irgendetwas Unangenehmes mit dem Mund, das Thomas Lull an alte Filme mit Tom Hanks erinnert.
Tu, was du tun musst, Lull. Sei nicht gerissen, sei nicht cool. Sieh zu, dass du hier wieder rauskommst. Er spürt eine zunehmende Enge im Brustkorb.
»Hören Sie, ich habe es schon den Soldaten gesagt. Ich bin mit ihr auf Reisen, sie hat Verwandte in Varanasi.«
Stuhlschaukler beugt sich vor und kritzelt etwas auf Hindi auf einen Notizblock. Der Stimmrecorder funktioniert nicht. Sagen sie. Tom Hanks macht wieder das mit dem Mund. Langsam geht es Thomas Lull richtig auf die Nerven. Auch das könnte ein Teil des Spiels sein.
»Damit mögen sich Jawans aus der Provinz zufriedengeben, aber wir sind hier in Varanasi, Sir.«
»Ich verstehe nicht, was zum Teufel hier los ist.«
»Es ist recht einfach, Sir. Ihre Kollegin hat eine Anfrage an die Nationale DNS-Datenbank gestellt. Ein routinemäßiger Sicherheitsscan offenbarte gewisse ... anomale Strukturen in ihrem Schädel. Sie wurde von der Sicherheit festgenommen und in unsere Obhut überstellt.«
»Sie reden ständig von diesen anomalen Strukturen. Was heißt das? Was sind das für anomale Strukturen?«
Tom Hanks betrachtet wieder seine Nägel. Sein Mund verzieht sich zu einem unglücklichen Ausdruck. »Das ist inzwischen eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit, Sir.«
»Das hier ist verdammt Franz Kafka. Das ist es!«
Tom Hanks blickt sich zu Stuhlschaukler um, der den Namen notiert.
»Das ist ein tschechischer Schriftsteller«, sagt Thomas Lull. »Er ist schon seit hundert Jahren tot. Ich habe nur versucht, ironisch zu sein.«
»Sir, bitte verzichten Sie auf Ironie. Wir haben es mit einem sehr ernsten Problem zu tun.«
Stuhlschaukler streicht bedächtig den Namen durch und schaukelt zurück, um Thomas Lull aus einer weiteren Perspektive zu mustern. Die Hitze im fensterlosen Zimmer ist unglaublich. Der Geruch nach feuchten Polizisten ist überwältigend.
»Was wissen Sie über diese Frau?«
»Ich habe sie bei einer Strandparty in Thekkady in Kerala kennengelernt. Ich habe ihr bei einem Asthmaanfall geholfen. Ich mochte sie, sie wollte nach Norden reisen, ich habe sie begleitet.«
Tom Hanks blättert eine Seite im Aktenordner auf dem Schreibtisch um und gibt vor, einen Textabschnitt zu lesen.
»Sir, sie hat eine Einheit Aufstandsbekämpfungsroboter mit einer Handbewegung aufgehalten.«
»Ist das ein Verbrechen?«
Stuhlschaukler schießt nach vorn. Die Stuhlbeine scharren über den von Schuhen polierten Betonboden.
»Awadhi-Luftkampfdivisionen haben soeben den Kunda-Khadar-Damm besetzt. Die gesamte Garnison hat kapituliert. Auch wenn es vielleicht kein Verbrechen ist, müssen Sie zugeben, dass der Zufall ... außergewöhnlich ist.«
»Das ist ein verdammter Witz. Glauben Sie etwa, sie hätte irgendetwas damit zu tun?«
»Ich mache keine Witze, wenn es um die Sicherheit meines Landes geht«, sagt Tom Hanks. »Ich weiß nur, was in diesem Bericht steht und dass Ihre Reisegefährtin Alarm ausgelöst hat, als sie versuchte, auf die Nationale DNS-Datenbank zuzugreifen.«
»Ich muss mehr über diese Anomalien wissen.«
Tom Hanks wirft Stuhlschaukler einen Blick zu.
»Wissen Sie, wer ich bin?«
»Sie sind Professor Thomas Lull.«
»Meinen Sie nicht, dass ich viel besser geeignet wäre als Sie, eine Hypothese über diese Sache abzugeben? Wenn ich wüsste, worum es geht.«
Stuhlschaukler konferiert in kurzem, abgehacktem Hindi mit Tom Hanks. Thomas Lull kann nicht sagen, wer von beiden der Ranghöhere ist.
»Nun gut, Sir. Wie Sie wissen, befinden wir uns in erhöhter Alarmbereitschaft, weil wir ein Problem mit unserem Nachbarn Awadh haben. Also ist es nur logisch, dass wir versuchen, uns vor einem Cyberkrieg zu schützen. Deshalb haben wir an wichtigen Positionen Scanner installiert, um langsame Drohnen, Infiltratoren, Agenten und dergleichen aufzuspüren. Identitätsdiebstahl ist ein bekanntes Werkzeug für Undercover-Agenten, also wurde auch das Archiv routinemäßig mit Überwachungseinrichtungen ausgestattet. Die Scanner im DNS-Archiv registrierten im Schädel dieser Frau Strukturen, die Proteinschaltkreisen ähnlich sind.«
Inzwischen kann Thomas Lull nicht mehr unterscheiden, was Spiel ist, was real ist und was über beides hinausgeht. Er denkt an den Schock, mit dem Kij im Zug reagiert hat, als er sie mit den Lügen konfrontierte, aus denen ihr Leben bestand. Sie hat ihm diesen Schock zehnfach heimgezahlt.
Tom Hanks schiebt Thomas Lull einen Palmer über den Tisch zu. Er will es nicht sehen, er will nichts von den fremdartigen Dingen in Kijs Kopf wissen, aber er zieht das Gerät näher heran. Es zeigt ein Falschfarben-Pseudoröntgenbild, das aus Infraschall-Scans zusammengesetzt wurde. Ihr hübscher Schädel ist hellblau. Die Augenhöhlen, die verschlungenen Fasern des Sehnervs, die geisterhaften Kanäle der Nebenhöhlen und die Blutgefäße sind grau vor grauerem Hintergrund dargestellt. Kij ist ein Geist ihrer selbst, und ihr Gehirn ist am gespenstischsten. Irgendwo im Netz aus Nervenfasern spukt ihr Intellekt herum. Und es gibt einen Geist innerhalb des Geistes, Linien und Elemente aus Nanoschaltkreisen, die sich durch ihren Schädel winden. Die Tilaka ist ein schwarzes Gateway in der Stirn wie die Darwaz einer Moschee. Davon ausgehend ziehen sich Ketten und Netze aus Proteinleitungen durch den Frontallappen und die Zentralfurche bis in den Parietallappen, Verzweigungen reichen in den Balken, schmiegen sich eng um das limbische System, tauchen tief in das Rückenmark, während Wicklungen aus Proteinprozessoren den Okzipitallappen umschließen. Kijs Gehirn ist von Schaltkreisen durchdrungen.
»Kalki«, flüstert er. Dann wird das Zimmer schwarz. Völlige Lichtlosigkeit. Keine Beleuchtung, kein Notstrom, nichts. Thomas Lull tastet nach seinem Palmer und zieht ihn aus der Tasche. Im Korridor rufen Stimmen auf Hindi, immer eindringlicher.
»Professor Lull Professor Lull, nicht bewegen!« Tom Hanks’ Tonfall ist verärgert und verängstigt. »Zu Ihrer eigenen Sicherheit befehle ich Ihnen zu bleiben, wo Sie sind, während ich nachsehe, was geschehen ist.«
Die Stimmen im Korridor werden lauter. Ein Kratzen, ein Blitz, Stuhlschaukler hat ein Streichholz entzündet. Drei Gesichter in einer Blase aus Licht, dann wieder Dunkelheit. Thomas Lull bewegt sich schnell. Seine Finger spüren den Schlitz für den Speicherchip am Polizei-Palmer und schieben ihn auf. Ein Kratzen, er reißt die Hände zurück, dann wird es wieder hell. Tom Hanks ist an der Tür. Das Stimmengewirr wird zeitweise unterbrochen, Rufe und Antworten gehen hin und her. Als das Streichholz abgebrannt ist, glaubt Thomas Lull eine fluktuierende Linie aus Licht unter der Tür zu sehen, der zuckende Schein einer Taschenlampe. Er löst den Speicherchip. Ein weiteres Streichholz flammt auf. Jetzt ist die Tür offen, und Tom Hanks unterhält sich mit einem unsichtbaren Polizisten draußen im Korridor.
»Was ist los? Wird Varanasi angegriffen?«, ruft Thomas Lull. Alles, was die Verunsicherung verstärken könnte. Das Streichholz erlischt. Thomas Lull zieht den Speicherchip aus seinem Palmer. Ein paar geschickte Handbewegungen, und er hat beide ausgetauscht.
Er hat bei diesem Blick ins Innere von Kij weitere Phantome entdeckt, Phantome, die seinen Verdacht bestätigen könnten, was man mit ihr gemacht hat und warum.