»Ihre Freundin ist entkommen«, sagt Tom Hanks und richtet einen Taschenlampenstrahl auf Thomas Lulls Gesicht. Im Halbdunkel schließen seine Hände die Schlitze.
»Wie hat sie das geschafft?«, fragt Thomas Lull.
»Ich hatte gehofft, Sie könnten es mir erklären.«
»Ich war die ganze Zeit hier bei Ihnen.«
»Sämtliche Systeme sind ausgefallen«, sagt Tom Hanks. Sein Mund arbeitet in Doppelschichten. »Wir wissen nicht, wie weit der Stromausfall reicht. Es betrifft mindestens diesen Stadtteil.«
»Und sie ist einfach hinausspaziert?«
»Ja«, sagt der Polizist. »Sie werden sicher verstehen, dass wir Sie für weitere Befragungen hierbehalten müssen.« Ein Schwall Hindi in Richtung Stuhlschaukler, der aufsteht und die Tür schließt. Thomas Lull hört, wie ein Riegel alter Schule vorgeschoben wird.
»He!«, ruft er in die Finsternis. Gedanken eines Mannes mittleren Alters in einem dunklen Verhörzimmer der Polizei. Seine Vermutungen, seine Berechnungen, seine Spekulationen schwellen zu raumfüllenden Ausmaßen an, zu Riesen aus Panik und Schock, die ihn bedrängen, die ihm die Luft aus den Lungen drücken. Die Nase zum Atmen, den Mund zum Sprechen. Den Geist für düstere Vorstellungen. Kalki. Sie ist Kalki, der letzte Avatar. Alles, was er braucht, ist der Beweis, der sich in die Scanneraufnahme eingebrannt hat.
Nach einer zeitlosen Zeitspanne, die nach der Uhr an der Wand nur zehn Minuten beträgt, geht das Licht wieder an. Die Tür öffnet sich, und Tom Hanks tritt zurück, um einen Schwarzen in nassem Regenmantel eintreten zu lassen, der sofort seine Nationalität und Tätigkeit angibt.
»Professor Thomas Lull?«
Lull nickt.
»Ich bin Peter Paul Rhodes vom Konsulat der Vereinigten Staaten. Bitte kommen Sie mit.«
Er streckt eine Hand aus. Thomas Lull greift zögernd danach.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Sir, aufgrund Ihres diplomatischen Status für das Außenministerium wurden Sie auf Befehl des Justizministeriums von Bharat meiner Obhut überantwortet.«
»Außenministerium?« Thomas Lull ist sich bewusst, wie dämlich er klingt, dumm wie ein erwischter Taschendieb. »Senator Joe O’Malley weiß, dass ich mich in einer Polizeiwache in Bharat aufhalte, und wünscht, dass ich freigelassen werde?«
»Korrekt. Man wird Ihnen alles erklären. Bitte folgen Sie mir jetzt.«
Thomas Lull nimmt die Hand und schiebt gleichzeitig seinen Palmer in die Tasche. Tom Hanks führt sie durch den Korridor. In der Eingangshalle halten sich mehrere Polizisten und eine Frau auf. Sie erhebt sich von der Holzbank, auf der sie gesessen hat. Zu ihren Füßen hat sich eine Pfütze aus Regenwasser gebildet. Ihre Kleidung ist nass, ihr Haar ist nass, ihr Gesicht schimmert feucht und ist schmaler und älter, aber er erkennt sie sofort wieder, was den Wahnsinn der Situation keineswegs verringert.
»L. Durnau?«
43
Thal, Najia
Achteinhalbtausend Rupien genügen, um den Chowkidar zu bestechen. Er zählt die Scheine mit knochigen Fingern ab, während Najia Askarzadah im gläsernen und marmornen Foyer von Indiapendent tropft. Dann zieht er seine Masterkarte durch und namastiert sie durch die Hälften der Glastür.
»Ich habe nie daran geglaubt, dass du es bist, Thalji«, ruft Pande, der Wachmann, ihnen hinterher, während er Najias Geld zusammenfaltet und in die Brusttasche seiner Jacke steckt. »Heutzutage können wir mit Bildern alles machen.«
»Man hat auf mich geschossen«, ruft Thal zurück, als sie zu den Aufzügen gehen.
Es ist nie wie in den Filmen, denkt Najia Askarzadah, als der Glaslift gleich einer Perle aus Licht herunterfährt. Eigentlich hätten sie sich mit Beva-Feuerkraft und Hikicks vorkämpfen müssen, sich im Sprung drehen, mit Martial-Arts-Action in Zeitlupe. Die coole Heldin hätte nicht ihre Eltern in Schweden anrufen müssen, um sie zu bitten, ihr das Bestechungsgeld zu überweisen. Die einzige Action, die Najia gesehen hat, war der Moment, als Pande das dicke Bündel Geldscheine durchblätterte. Trotzdem ist es eine seltsame kleine Konspiration, aber eher Bolly- als Hollywood.
Über die gläsernen Wände des Metasoap-Flügels strömt der Regen. Er hat eingesetzt, als das Taxi, das sie für den ganzen Tag gemietet haben, vor Indiapendent Productions eintraf. Der Parkplatz war eine Basti aus Hütten, die man mit Ziegelsteinen und Pappe errichtet hat, und Gruppen aus unerschütterlichen Soapi-Fans, die sich unter Plastikfolie zusammenkauerten.
»Sie kommen jedes Mal zu einer Hochzeit hierher«, erklärte Thal. »Es ist wie eine Religion. Lal Darfan liefert zuverlässig. Die PR sagt, ihm würden zwanzig Wundergeburten zugeschrieben.«
Thal eilt mit Najia an den Arbeitskabinen aus dunklem Holz vorbei bis zur letzten Workstation. Ys zieht zwei Stühle heran, loggt sich ein — »Anders geht es nicht, Baba« —, öffnet den Rundumbildschirm und katapultiert sie nach Brahmpur, der titelgebenden Stadt aus Indiapendents erfolgreichster Soapi.
Thal schleudert Najia durch die Straßen und Galis, die Ghats und Einkaufszentren dieser virtuellen Stadt. Najia wird schwindlig. Die Szenerie ist detailliert ausgearbeitet, bis hin zu den Reklameschildern und den wimmelnden Phatphats. In Brahmpur ist genauso Nacht wie in Varanasi, und es regnet. Der Monsun hat auch diese imaginäre Stadt erreicht. Najia ist viel zu stolz, um sich jemals eine komplette Episode von Stadt und Land angesehen zu haben, aber selbst als Neo erkennt sie, dass es ganze Stadtviertel gibt, die nie von der aktuellen Handlung benutzt werden. Dennoch hat man die Illusion liebevoll aufgebaut und verwendet Exabytes Prozessorleistung darauf, einfach nur, um den Rest zusammenzuhalten. Thal hebt die Hände, und ihr Djinn-Flug wird schlagartig vor einem baufälligen Haveli am Flussufer gestoppt. Najia hat das Gefühl, sie könnte den zerbröckelnden Putz berühren. Eine Mudra, und sie dringen durch die Wand in den großen Hauptsaal des Nadiadwala-Haveli ein.
»Wow«, sagt Najia Askarzadah. Sie kann die Risse im Bezug der niedrigen Ledersofas sehen.
»Oh, das ist gar nicht das reale Brahmpur«, erklärt Thal. Eine weitere elegante Geste, und alles wird verschwommen in der Zeit vorgespult. »Das heißt, das Ensemble glaubt es, aber wir nennen das hier Brahmpur B. Das ist die Metastadt, in der die Metasoap stattfindet. Ich spule uns nur bis zur Chawla-Nadiadwala-Hochzeit vor. Haben Sie das Video bereit?«
Aber Najia ist völlig benommen von den huschenden Geistern der künftigen Handlung in diesem stillen Raum. Tag und Nacht wechseln sich flackernd ab. Thal öffnet die Hand wie eine Klaue, dreht sie, und die Zeit verlangsamt sich zu einem Tuckern von Hell und Dunkel. Jetzt kann sie die Personen erkennen, die durch den eleganten, kühlen Marmorsaal sausen. Thal bremst den Zeitablauf weiter ab, und plötzlich strahlt der Saal von farbigen Wandbehängen. Thal drückt die offene Handfläche gegen die Luft, und die Zeit bleibt stehen.
»Hier, hier.« Thal schnippt ungeduldig mit den Fingern. Najia reicht ys ihren Palmer. Ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden, transferiert ys die Daten. Ein Loch öffnet sich mitten im Raum und wird von N. K. Jivanjee ausgefüllt. Mit dosierten Fingerbewegungen holt Thal das Bild weiter nach vorn, bis es sich gut in den Hintergrund einfügt. Dann zieht ys einen Rahmen um die mit Stoffen behangene Wand, löst ihn aus N. K. Jivanjees Welt und wirft ihn ins falsche Brahmpur. Selbst Najia Askarzadah kann sehen, wie gut das Bild hineinpasst.
»Das hier befindet sich etwa sechs Monate in der Zukunft der Metasoap«, sagt Thal, während ys die Perspektive durch den Raum wandern lässt, um die erstarrten Hochzeitsgäste in ihrer Couture und die Chati-Mag-Reporter der Realwelt herum, die ihre beste fein texturierte Garderobe angelegt haben und auf die Ankunft des falschen Bräutigams auf seinem weißen Pferd warten. »Sie existieren in mehreren Zeitfenstern gleichzeitig.«