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Najia erinnert sich an Lal Darfans phantastischen Pavillon, der in Form eines fliegenden Elefanten über dem Himalaya dahintrieb. Kann irgendwer von uns dem trauen, woran wir uns zu erinnern glauben?, hatte er gefragt. Sie hatte gedacht, mit einem Kaih-Schauspieler über Sophistereien zu diskutieren, aber Thals Spiel ist wesentlich ausgeklügelter — das Meta-Meta-Spiel. Najia erinnert sich an ein altes Kindermärchen, das eine Babysitterin ihr in einer Mittwinternacht erzählte, eine gefährliche Geschichte, beunruhigend, wie es nur ein wahrlich magisches Märchen sein kann. Es ging darum, dass die Märchenwelten wie Babuschka-Puppen ineinander verschachtelt sind, aber jede Welt ist größer als die, die sie umschließt, bis man sich im Mittelpunkt durch eine Tür zwängen muss, die kleiner als ein Senfkorn ist, aber ganze Universen enthält.

»Wir haben die Drehbücher bis etwa acht Monate weiter recht detailliert ausgearbeitet. Das Wetter ist noch nicht dabei. Eine Sub-Kaih sagt es für die nächsten vierundzwanzig Stunden voraus und legt es dann über die Szenen. Wenn das Skript schließlich die Realzeit erreicht, ist die Erinnerung fixiert, und sie wissen nicht mehr, dass es jemals anders war. Eine andere Kaih kümmert sich um die Nachrichten, den Gupshup und die Sportergebnisse und solche Sachen. Die Hauptfiguren sind zeitlich viel weiter als die kleineren Rollen, so dass wir in mehreren Zeitdimensionen gleichzeitig arbeiten. Genau genommen sind es Zeitvektoren, die sich immer weiter von unserem entfernen.«

»Das klingt verrückt.«

»Ich mag es verrückt. Aber der Punkt ist, dass niemand außerhalb von Indiapendent Zugriff auf das hier hat.«

»Satnam?«

Thal runzelt die Stirn.

»Ich weiß nicht, ob er das System bedienen könnte. Okay, einen Moment. Wir gehen auf vollen Prop. Ich hoeke Sie ein, hier.«

Thal legt sys eigenen Hoek aus intelligentem Kunststoff an, der sich warm an die Krümmung sys Schädels schmiegt. Dann stattet ys Najia mit dem zweiten Gerät aus. Sys Finger sind sehr geschickt und sehr zart und sehr weich. Würde sie nicht gerade ein gesichertes System zusammen mit dem meistgesuchten Neut knacken, das vielleicht soeben die Regierung gestürzt hat und das sie noch am Morgen dieses Tages vor einem Bahnhofsattentäter gerettet hat, würde sie vielleicht schnurren.

»Ich steige jetzt in die Registrierungsebene ein. Es könnte für Sie etwas verwirrend werden.«

Najia Askarzadah wäre mit ihrem Stuhl fast rückwärts umgekippt. Sie wird mitten in eine riesige Sphäre geworfen, die aus kodierten Registrierungsdaten besteht, die den dunklen Raum und die Krümmung des Flüssigkeitsbildschirms und den Regen überlagern, der am dicken blauen Glas hinunterströmt. Sie befindet sich im Zentrum einer Galaxie aus Daten. Ganz gleich, in welche Richtung sie blickt, überall wandern Kodes an ihr vorbei. Thal dreht die Hand, und die Sphäre rotiert. Adresszeilen verwischen durch die Datenverschiebung in Najias Sichtfeld. Erneut wird ihr schwindlig, und sie muss sich an ihrem Stuhl festhalten.

»Oh Mann!«

»Sie werden sich daran gewöhnen. Wenn jemand meine schöne Hochzeit besucht hat, muss er Spuren in den Registrierungsdaten hinterlassen haben. Danach suche ich jetzt. Die jüngsten Einträge befinden sich im Zentrum, die älteren werden immer weiter nach außen abgedrängt. Aha.« Thal zeigt auf etwas. Verwischte Kodes wie Sterne während einer Warpphase. Najia Askarzadah ist davon überzeugt, dass sie den Datenwind im Haar spürt. Sie fällt aus dem Cyberraumflug und hängt antriebslos vor einem grünen Kode-Fragment. Die Sphäre aus leuchtenden Dateiadressen wirkt unverändert. Überall ist Zentrum, nirgendwo Peripherie. Wie im Universum. Thal nimmt sich den Kode vor.

»Das ist wirklich verrückt.«

»Sie mögen es doch verrückt, oder?«, fragt Najia.

»In diesem Fall nicht. Jemand war in meinen Designdateien, aber es ist ein Kode, den ich nicht kenne. Es sieht nicht danach aus, als wäre er von außen gekommen.«

»Vielleicht greift ein anderes Programm auf Ihre Dateien zu.«

»Es ist wahrscheinlicher, dass die Schauspieler ihre eigenen Drehbücher umschreiben. Ich gehe jetzt rein. Wenn Ihnen schwindlig wird, schließen Sie die Augen.«

Sie tut es nicht, und ihr Magen macht Loopings, während das Universum aus langsam dahintreibenden Kodes ruckt und rotiert und zoomt und warpt. Thal vollführt Hypersprünge von einer Kodegruppe zur nächsten. »Das ist sehr, sehr seltsam. Es ist wirklich ein Inside-Job, aber es war niemand aus dem Ensemble. Sehen Sie, hier?« Thal sammelt mehrere Kodes ein und breitet sie auf einem räumlichen Gitter aus. »Diese Bits hier sind völlig normal. Um Speicherplatz zu sparen, sind viele Kaih-Schauspieler geringerer Stufe als Sub-Applikation einer Kaih höherer Stufe angelegt. Anita Mahapatra enthält außerdem Narinder Rao, Mrs. Devgan und die Begum Vora, und sie wiederum enthalten vielleicht fünfzig Redshirts.«

»Redshirts?«

»Entbehrliche Statisten. Ich glaube, das ist ein amerikanischer Begriff. Das hier ist eine Liste aller Zugriffe auf das Set-Design-System in letzter Zeit. Sehen Sie? Jemand war in den vergangenen achtzehn Monaten regelmäßig in meinen Designdateien. Aber das richtig Verrückte daran ist, dass alle diese normalen Kode-Abschnitte auf einen Schauspieler noch höherer Stufe deuten, einen, der Lal Darfan und Aparna Chawla und Ajay Nadiadwala enthält. Es ist, als würde hier drinnen noch etwas anderes ablaufen, das wir nicht sehen können, weil es zu groß ist.«

Im cremefarbenen Haus am Wasser gab es einen Atlas in der Größe eines Kleinkinds. In den Winternächten, wenn die Wasserleitungen gefroren waren, wuchtete Najia im Alter von acht Jahren das Ding vom Regal herunter, öffnete es auf dem Boden und verlor sich in anderen Klimazonen. Bei einem Spiel mit ihren Eltern ging es darum, dass man einen Begriff aus einer Landkarte heraussuchte und dann möglichst schnell den Finger darauf legte. Sie hatte früh festgestellt, dass man am leichtesten gewinnen konnte, wenn man sich auf die großen und offensichtlichen Bezeichnungen konzentrierte. Das Auge, das die Städte und Dörfer und Bahnhöfe von Mato Grosso absuchte, übersah den Namen BRASILIEN, der sich in blassgrauen Lettern von der Größe ihres Daumens über die Landkarte zog. Die Buchstaben versteckten sich ganz offen zwischen dem Kleingedruckten.

Najia blinzelt sich aus Thals Spiraltanz der Kodes und Dateiadressen zurück in die dunkle Arbeitskabine. Sie ist in einem Würfel aus Regen gefangen. Ein Masterskript, das sich selbst geschrieben hat? Eine Soap Opera wie Indiens sieben Millionen Götter, Avatare und Emanationen, die durch die Ebenen der Göttlichkeit von Brahma herabsteigen, dem Absoluten, dem Einen?

Dann sieht sie, wie sich Thal vom Computer wegschiebt, den Mund furchtsam geöffnet, eine Hand erhoben, um den bösen Blick abzuwehren. In der gleichen Perspektive sieht sie Pande mit seinem gelben Turban, der völlig aufgelöst in die Abteilung stürzt.

Thaclass="underline" »Das ist unmöglich ...«

Pande: »Sir Madam, Sir Madam, kommen Sie schnell kommen Sie schnell, die Premierministerin ...«

Dann geht Najia Askarzadahs Hoek mit einem Blitz auf vollen Prop, und sie wird von Thal und Pande und von Indiapendent im Monsun fortgerissen, zu einem hellen, hohen Ort, zu einer mit Seide drapierten Aussicht zwischen den Wolken. Sie weiß, wo sie ist. Sie ist schon einmal hierhergerufen worden. Es ist der fliegende Elefantenpavillon von Lal Darfan, der parallel zu den Gipfeln des Himalaya dahintreibt. Doch der Mann auf dem mit Kissen gepolsterten Thron vor ihr ist nicht Lal Darfan. Sondern N. K. Jivanjee.

44

Shiv

Yogendra steuert das Boot hinaus in den Strom der brennenden Diyas. Monsunwinde wühlen den Ganges auf, aber die Näpfchen aus Mangoblättern tanzen weiter auf dem unruhigen Wasser. Shiv sitzt mit gekreuzten Beinen unter der Plastikplane, klammert sich an der Bordwand fest und versucht das Gleichgewicht auszuloten. Er betet, dass er nicht kotzen muss. Er blickt sich zu Yogendra um, der im Heck kauert, die Hand ruhig an der Pinne des Alkospritmotors, während seine Augen den Fluss lesen. Seine Haut ist von Regenperlen überzogen, die ihm von den Haaren ins Gesicht rinnen, seine Kleidung klebt an ihm. Shiv denkt an Ratten, die er schwimmend in offenen Kloaken am Straßenrand gesehen hat. Doch die um Yogendras Hals verknoteten Perlen leuchten.