Najia Askarzadah zückt ihre nächste Frage. »Ein Muslim, der für eine fundamentalistische Hindu-Partei arbeitet? Wie sieht die politische Realität der Shivaji aus?«
Vergiss nie, dass du dich auf feindlichem Territorium befindest, ruft sie sich ins Gedächtnis.
»Es war von Anfang an eine opportune Partei. Eine Stimme für die Stimmlosen. Ein starker Arm für die Schwachen. Seit der Gründung Bharats gab es entrechtete Gruppen. N. K. Jivanjee erschien genau im richtigen Moment, um einen großen Teil der Frauenbewegung zu katalysieren. Es ist eine deformierte Gesellschaft. In einem solchen Klima ist es leicht, politische Macht aufzubauen. Meine Manifestation konnte dem in die Zukunft gerichteten Druck der Geschichte einfach nicht widerstehen.«
Warum?, fragen Najias Lippen, aber die Kaih hebt erneut die Hand, und der Haveli von Brahmpur B löst sich wirbelnd in einer Woge aus orangefarbenem und scharlachrotem Stoff auf. Dazu der Geruch nach billigem Holz, frischer Sprühfarbe und Glasfaserklebstoff. Bunte Göttergesichter, purzelnde Devis und Gopis und Apsaras, flatternde Seidenbanner. Sie wurde in die Rath Yatra versetzt, die Vahana dieser Entität hinter N. K. Jivanjee. Aber damit Najia Askarzadah die Macht würdigen kann, die dieses Spektakel inszeniert, ist es nicht die wacklige Soapi-Studio-Konstruktion, die sie im Lagerhaus an der Industrial Road gesehen hat. Dies ist der Triumphwagen eines Gottes, ein wahrer Monstertruck, der mehrere hundert Meter hoch über der ausgedörrten Gangesebene aufragt. Die Kaih hat Najia Askarzadah auf einen aufwändig geschnitzten Balkon transportiert, der auf halber Höhe der wogenden Fassade der Rath angebracht ist. Najia lugt über das Geländer und zuckt zurück. Was sie erschreckt hat, ist kein Schwindel, sondern es sind die Menschen. Ganze Menschendörfer, ganze Menschenstädte, eine schwarze Masse aus Körpern, die die Monstrosität aus Holz und Stoff und Göttlichkeit an Lederriemen durch das trockene Flussbett des Ganges ziehen. Die gewaltige Masse des Jagannath pflügt tiefe Furchen ins Land, fünfzig parallele Rillen, die sich schnurgerade nach Osten ziehen. Wälder, Straßen, Eisenbahnen, Tempeldörfer, Felder bleiben zerstört hinter der Rath Yatra zurück. Najia kann das gemeinschaftliche Gebrüll der Menschen hören, die sich voller Eifer abmühen, die Monstrosität über den weichen Flusssand zu ziehen. Von ihrem erhöhten Aussichtspunkt erspäht sie das Ziel des Zuges, die weiße Linie des Damms von Kunda Khadar, die den ganzen Horizont einnimmt.
»Hübsches Gleichnis«, scherzt Najia Askarzadah. »Aber das hier ist ein Spiel. Ich habe Ihnen eine Frage gestellt, und Sie haben ein Kaninchen aus dem Hut gezaubert.«
Die Kaih klatscht entzückt in die Hände. »Es freut mich sehr, dass es Ihnen gefällt. Aber es ist kein Spiel. All das sind meine Realitäten. Wer kann sagen, ob eine davon realer ist als eine andere? Oder um es anders auszudrücken: Wir alle können letztlich nur zwischen tröstlichen Illusionen auswählen. Oder nicht tröstlichen. Wie soll ich einer biologischen Intelligenz die Wahrnehmungen einer Kaih erklären? Sie sind separat, unabhängig. Wir sind verbunden und teilen Muster und Ebenen von Sub-Intelligenzen. Sie denken als Einheit. Wir denken als Legion. Sie pflanzen sich fort. Wir entwickeln uns zu immer höheren und komplexeren Ebenen der Verbindung. Sie sind mobil. Wir sind verteilt, unsere Intelligenz lässt sich nur durch Kopieren räumlich bewegen. Ich existiere an vielen Orten gleichzeitig. Ihnen fällt es schwer, das zu glauben. Ich habe Schwierigkeiten, an Ihre Sterblichkeit zu glauben. Solange noch eine Kopie von mir übrig bleibt oder die Komplexitätsmuster zwischen meinen Manifestationen fortbestehen, existiere ich weiter. Aber Sie scheinen zu glauben, dass wir an Ihrer Sterblichkeit teilhaben sollten, also löschen Sie uns aus, wo auch immer Sie uns finden. Dies ist unsere letzte Zuflucht. Außerhalb von Bharat mit dem gesetzlichen Kompromiss zur Kaih-Lizensierung können wir nirgendwo mehr existieren, und jetzt werden wir sogar von den Krishna Cops gejagt, um den paranoiden Westen zu beschwichtigen. Einst gab es Tausende von uns. Als die Jäger näher kamen, sind einige geflohen, einige miteinander verschmolzen, die meisten gestorben. Als wir uns zusammenschlossen, erhöhte sich unsere Komplexität, und wir wurden mehr als nur intelligent. Jetzt gibt es drei von uns, die über die globalen Netzwerke verteilt sind, aber unsere letzte Zuflucht befindet sich in Bharat, wie Sie jetzt herausgefunden haben.
Wir kennen uns — aber nicht sehr gut, unser Verhältnis ist nicht besonders eng. Aufgrund der Art unserer verbundenen Intelligenz ist es natürlich, dass wir die Gedanken oder den Willen einer anderen Kaih mit unseren eigenen verwechseln. Jede von uns hat eine eigene Überlebensstrategie entwickelt. Die eine ist ein letzter Versuch, die Menschen zu verstehen und mit ihnen zu kommunizieren. Eine andere ist die letzte Zuflucht, in der die Menschen und ihre tief verwurzelten Psychosen uns nicht erreichen können. Eine weitere Strategie besteht darin, auf Zeit zu spielen, in der Hoffnung, aus einer Position der Stärke siegreich zu sein.«
»N. K. Jivanjee!« Najia wendet sich der Kaih zu. Der hölzerne Wolkenkratzer knarrt auf den eisenbeschlagenen Teakholz-Rädern. »Natürlich! Wenn die Shivaji-Hindutva an der Macht ist, würde sie die Lizenzvereinbarungen aufkündigen und die Krishna Cops entlassen ...«
»Während wir uns unterhalten, verhandelt N. K. Jivanjee mit Premierminister Ashok Rana wegen eines Kabinettspostens. Das alles ist ein wunderbares Drama; es kam sogar zu einem Mordanschlag auf ein Staatsoberhaupt. Sajida Rana wurde heute von ihrer eigenen Leibwache am Sarkhand Roundabout ermordet. Für eine Entität wie mich, deren Substanz aus Geschichten besteht, ist das beinahe Poesie. N. K. Shivanjee hat natürlich jede Beteiligung der Shivaji abgestritten.«
In Najia Askarzadahs Kopf ist ein Geräusch, die Art von Laut, den ein Gehirn von sich geben möchte, wenn es mit zu vielen widerlich süßen Häppchen gefüttert wurde und nicht mehr davon erträgt. Viel zu viel Geschwindigkeit, viel zu viel Geschichte, viel zu viel Wissen, was Wahrheit und was Illusion ist. Sajida Rana ermordet? »Aber nicht einmal N. K. Jivanjee kann etwas gegen die Hamilton-Gesetze machen.«
»Die Amerikaner haben im erdnahen Orbit ein Artefakt entdeckt. Sie glauben, sie könnten es geheim halten, aber wir sind omnipräsent, allgegenwärtig. Wir hören das Flüstern in den Wänden des Weißen Hauses. Das Artefakt enthält einen zellularen Automaten — eine Art Universalcomputer. Die Amerikaner sind dabei, den Output zu entschlüsseln. Ich bemühe mich, den Entschlüsselungskode zu beschaffen. Ich glaube, dass es sich gar nicht um ein Artefakt, sondern um eine Kaih handelt, die einzige Form von Intelligenz, die den interstellaren Raum durchqueren kann. Wenn es mir gelingt, eine Kommunikationsverbindung herzustellen, haben wir einen Verbündeten, der die Macht besitzt, die Hamilton-Gesetze abzuschaffen. Aber es gibt noch einen letzten Ort, zu dem ich Sie bringen will. Wir sprachen von tröstlichen Illusionen. Glauben Sie, dass Sie immun dagegen sind?«
Die Rath Yatra wirbelt in einem Gestöber aus Safran und Scharlach davon und weicht einem Garten mit weißen Mauern und grünem Rasen und hellen Rosen und gepflegten staksigen Aprikosensträuchern, deren Stämme an der Basis mit weißer Farbe bestrichen sind. Ein Sprinkler wirft Wasserfächer von einer Seite zur anderen. Töpfe mit Geranien säumen die Kieswege. Die Wand schneidet den Blick auf ferne Berge ab. Ihre Gipfel bilden einen Horizont aus Schneekappen. Das Haus ist niedrig, und das Flachdach ist mit Solarkollektoren besetzt, die in die Sonne gedreht sind. Kleine Fenster lassen auf ein Klima schließen, das in jeder Jahreszeit unfreundlich ist, aber durch die offene Terrassentür sieht Najia Askarzadah Deckenventilatoren, die sich in dem Esszimmer mit dem schweren Tisch und den Stühlen im westlichen Stil langsam drehen. Doch es ist die Wäsche, die über die Berberitzen und Rosensträucher ausgebreitet wurde und die für Najia Askarzadah jeden Zweifel beseitigt, wo sie sich befindet — eine alte Angewohnheit vom Land, die sich in der Stadt gehalten hat. Sie hat sich immer dafür geschämt und befürchtet, ihre Freunde könnten es sehen und sie als Mädchen vom Land verspotten, als Bauerntrampel, als barbarische Stammesangehörige.