Sie folgen der Mauer, am Südwestturm vorbei und weiter an der Terrasse auf der Flussseite entlang. Shivs Beinmuskeln protestieren gegen die geduckte Haltung. Er ist völlig durchnässt. Hastings’ Pavillon hängt wie ein Mond über ihm, in hypnotisch weißem Taj-Stein. Er reißt sich vom Anblick los, stupst gegen Yogendras Schenkel.
»He.«
Ein einfacher quadratischer Lodi-Tempel steht mitten auf dem Hof, die oberen Stockwerke mit kaputten Wandreliefs von Shiva, Parvati und Ganesha verziert, die Arbeit gelangweilter Jawans der indischen Armee mit Farbe aus Militärbeständen. Der Suddhavasa, die Krypta der Kryptologie.
»Los ...«
Der Junge tippt gegen Shivs Brille und macht eine rollende Geste, die ihm sagt, dass er die Helligkeit verstärken soll. Der Tempel springt mit erhöhter Deutlichkeit in sein Sichtfeld. Shiv erkennt zwischen den Bögen eine brodelnde dunkle Masse, die ständig im Fluss ist. Er zoomt das Bild heran. Roboter. Skarabäen. Hunderte. Tausende. Wie eine Heuschreckenplage huschen sie umeinander herum, klettern übereinander hinweg, drängeln und schubsen sich auf lautlosen Plastikfüßen.
Yogendra zeigt zum Tempeclass="underline" »Anands Weg.« Dann zum strahlend weißen Pavillon: »Yogendras Weg.«
Sie sehen den Wachposten auf dem alten Mughal-Hinrichtungsplatz. Der Mann trägt kein Nachtsichtgerät, so dass Shiv und Yogendra mühelos bis auf Taserreichweite herankommen. Er pisst lange und ausgiebig durch den Regen in den Abgrund. Yogendra zielt sorgfältig auf den mitternächtlichen Urinator. Die Waffe gibt nur ein leises Klicken von sich, aber die Wirkung in Shivs Nachtsicht ist spektakulär. Eine leuchtende Wolke umgibt den Mann, über seinen Körper kriechen Mikroblitze. Er stürzt. Sein Schwanz hängt noch raus. Yogendra ist bei ihm, bevor er aufhört zu zucken. Er zieht ihm die große schwarze Stechkin-Maschinenpistole aus dem Beinholster, hält sie hoch und betrachtet lächelnd ihre Formen und Konturen.
Shiv packt sein Handgelenk. »Keine verdammten Waffen.«
»Und ob verdammte Waffen«, sagt Yogendra.
Der Rakshasa-Roboter macht seine nächste Runde. Shiv und Yogendra drücken sich an den bewusstlosen Wachmann, um ihr thermisches Profil mit seinem verschmelzen zu lassen. Als Abschiedsgeschenk lässt Shiv dem Pisser eine scharfe Tasermine zurück. Als Rückendeckung. Hinter dem Hinrichtungsturm weichen die Mauern zurück, um Hastings’ Pavillon auf dem Marmorsockel hervorzuheben. Shiv muss zugeben, dass die Aussicht sogar im Regen atemberaubend ist. Das Gebäude steht an einem Steilabhang, der bis zu den Blechdächern von Chunar hinunterreicht. In der Nachtsicht schimmert die Ebene wie ein umgekehrter Nachthimmel mit den Lichtern von Dörfern und Fahrzeugen und Eisenbahnen. Doch Ganga Mata dominiert alles, eine silberne Klinge, die Waffe eines Gottes, so weit wie die Welt, geriffelt wie ein Schwert aus Damaszener Stahl, das er einmal in einem Antiquitätenladen in Kashi gesehen und als angemessenes Attribut eines Raja begehrt hat. Shiv folgt der Biegung des Flusses bis zum Nachtleuchten von Varanasi, das sich wie eine Feuersbrunst hinter dem Horizont abzeichnet.
Der Pavillon, den der erste Raj-Gouverneur Warren Hastings baute, um dieses Panorama zu genießen, ist eine Mischung aus englischer und Mughal-Architektur. Klassische Säulen stützen einen traditionellen offenen Mughal-Diwan mit geschlossenem oberem Stockwerk. Shiv regelt seine Brille auf das Minimum herunter. Er schaut genau hin. Er meint, Körper im Diwan zu erkennen, über den gesamten Boden verstreut. Keine Zeit zum Starren. Wieder tippt Yogendra ihn an. Hier ist die Mauer nicht so hoch und senkt sich zum Marmorsockel ab. Yogendra schlüpft durch eine Zinne, dann hört Shiv ein raues Gleitgeräusch, und als er das nächste Mal hinüberlugt, winkt Yogendra ihm. Der Weg ist weiter und steiler, als Shiv trotz der Draufgängerpillen gedacht hat. Er landet abrupt und schmerzhaft, unterdrückt einen Schrei. Gestalten regen sich im offenen Pavillon.
Shiv wendet sich der potenziellen Gefahr zu. »Donnerwetter«, sagt er ehrfürchtig.
Der Teppich ist mit Frauen bedeckt. Inderinnen, Filipinas, Chinesinnen, Thai, Nepali, sogar Afrikanerinnen. Junge Frauen. Billige Frauen. Gekaufte Frauen, nicht in roten Catsuits, sondern in klassischer Mughal-Zenana-Mode, in transparenten Cholis und leichten Seidensaris und durchscheinenden Jamas. Genau in der Mitte räkelt Datenraja Ramanandacharya sein fettes Ego auf einem erhöhten Diwan. Er ist im Stil eines Mughal-Fürsten gekleidet. Yogendra marschiert bereits quer durch den Harem. Die Frauen fliehen vor ihm, besorgte Stimmen erheben sich. Shiv sieht, wie Ramanandacharya nach seinem Palmer greift. Yogendra zückt die Stechkin. Die Bestürzung steigert sich zu ängstlichen Schreien. Ihnen bleiben nur wenige Momente, um die Sache durchzuziehen. Yogendra steigt zu Ramanandacharya hinauf und drückt die Mündung der Stechkin lässig in die weiche Stelle unter dem Ohr.
»Alle halten die Klappe!«, ruft Shiv. Frauen. Überall Frauen. Frauen jeder Rasse und Nationalität. Junge Frauen. Frauen mit hübschen Brüsten und wunderbaren Brustwarzen, die sich durch die transparenten Cholis zeigen. Dieser verdammte Ramanandacharya. »Sofort. Klappe. Halten. Gut. Fettsack. Du hast etwas, das wir haben wollen.«
Najia hört Kinderstimmen aus dem Haus. Die Dhobi ist von den Büschen verschwunden, stattdessen sind Girlanden mit Wimpeln von der Küchentür bis zu den Aprikosenbäumen gespannt, die jetzt in voller Blüte stehen. Klapptische mit bunten Tischtüchern sind reichlich gedeckt mit Halwa und Jalebis, Ras Gullahs und Zuckermandeln, Burfi und großen Plastikflaschen mit echter Coke. Als Najia auf das Haus zugeht, rennen die Kinder durch die offene Terrassentür in den Garten, schreiend und in den Kindersachen von Kid at Gap.
»Daran erinnere ich mich!«, wendet sich Najia an die Kaih. »Das ist mein vierter Geburtstag. Wie machen Sie das?«
»Die Bilder basieren auf Aufzeichnungen, die Kinder sind so, wie Sie glauben, sich an sie zu erinnern. Das Gedächtnis ist eine sehr formbare Angelegenheit. Wollen wir hineingehen?«
Najia hält im Türrahmen inne, die Hände vor den Mund geschlagen, während die mächtigen Erinnerungen auf sie einstürmen. Die Seidenschonbezüge — ihre Mutter bestand darauf, dass sie über jede Stuhllehne gezogen wurden. Neben dem Tisch der russische Samowar, an dem nie das Gas abgedreht wurde. Der Tisch selbst, Staub und Krümel, die sich permanent in der chinesischen Schnitzarbeit abgelagert hatten, in der die vierjährige Najia Straßen und Wege erkannt hatte, denen ihre Puppen und Spielzeugautos folgen konnten. Die elektrische Kaffeekanne am anderen Ende, ebenfalls nie außer Betrieb. Die Stühle so schwer, dass sie sie nicht allein verrücken konnte und das Hausmädchen Shukria bitten musste, ihr zu helfen, wenn sie mit Besen und Decken Häuser und Geschäfte bauen wollte. Auf den Stühlen um den Esstisch ihre Eltern und ihre Freunde, die sich bei Kaffee und Tee unterhalten, die Männer beieinander, die Frauen beieinander. Die Männer sprechen über Politik und Sport und Karriere, die Frauen über Kinder und Preise und Karriere. Der Palmer ihres Vaters klingelt, und er runzelt die Stirn, und es ist ihr Vater, wie sie ihn von den Familienfotos kennt, als er noch Haar hatte, als sein Bart schwarz und gepflegt war, als er noch keine unmännliche Halbbrille brauchte. Er murmelt eine Entschuldigung, geht in sein Arbeitszimmer, das die vierjährige Najia niemals hatte betreten dürfen, aus Angst vor den scharfen giftigen empfindlichen persönlichen ansteckenden gefährlichen Dingen, die ein Arzt in seinem Arbeitszimmer aufbewahrt. Najia beobachtet, wie er mit einer schwarzen Tasche herauskommt, seiner anderen schwarzen Tasche, die er nicht täglich benutzt, die nur für besondere Besuche da war. Sie sieht, wie er auf die Straße hinausgeht.