Выбрать главу

»Es war mein Geburtstag, und er hat verpasst, wie ich meine Geschenke bekomme. Und die Party. Er kam sehr spät zurück, als alle schon gegangen waren, und er war zu müde, um noch irgendetwas zu tun.«

Die Kaih winkt sie in die Küche, und in drei Schritten vergehen drei Monate, denn nun ist es ein dunkler Herbstabend, und die Frauen bereiten das Iftar vor, um das Ende der Fastenzeit für diesen Tag des Ramadan zu feiern. Najia folgt den beladenen Tabletts ins Esszimmer. In diesem Jahr versammeln sich die Freunde ihres Vaters, die aus dem Krankenhaus und die in Uniform, oft an Ramadan-Abenden im Haus, um über gefährliche Studenten und radikale Geistliche zu reden, die sie alle ins Mittelalter zurückbefördern möchten, und über die Unruhen und Streiks und Verhaftungen. Dann bemerken sie das kleine Mädchen, das mit der Reisschüssel am Ende des Tisches steht, und sie unterbrechen ihr Gespräch, um zu lächeln und ihr über das Haar zu streichen und ihre Gesichter dicht an ihres zu drücken. Plötzlich ist der Geruch nach Tomatenreis überwältigend. Ein Schmerz wie von einem Messer, das ihr in die Schläfe gestoßen wird, bewirkt, dass Najia die Reisschüssel aus den Händen fällt. Sie schreit auf. Niemand hört es. Die Freunde ihres Vaters reden weiter. Die Reisschüssel kann nicht herunterfallen. Es sind Erinnerungen. Sie hört gesprochene Worte, an die sie sich nicht erinnern kann.

»... werden rigoros gegen die Mullahs durchgreifen ...«

»... Geld auf ausländische Bankkonten transferieren. In London sieht es gut aus, dort versteht man, wie es uns hier geht ...«

»... dein Name wird sehr weit oben auf ihrer Liste stehen ...«

»... das wird sich Masoud nicht von ihnen gefallen lassen ...«

»... kennt ihr euch mit Tipping-Points aus? Irgendeine mathematische Theorie der Amerikaner, hab’s nicht ganz verstanden. Im Grunde geht es darum, dass man nichts von der Entwicklung merkt, bis es zu spät ist, etwas dagegen zu tun ...«

»... Masoud wird nicht zulassen, dass es dieses Stadium erreicht ...«

»... an deiner Stelle würde ich mir ernste Sorgen machen, ich meine, du lebst hier mit deiner Frau, der kleinen Najia ...«

Die Hand streckt sich ihr entgegen, um ihr das sanft gelockte schwarze Haar zu zerzausen. Die Welt wirbelt davon, und sie steht in ihrem Mammoth!-Pyjama an der halb offenen Tür zum Wohnzimmer.

»Was haben Sie mit mir gemacht?«, fragt sie die Kaih, eine Präsenz hinter ihr, die sie mehr spürt denn sieht. »Ich habe Dinge gehört, die ich jahrelang vergessen habe, fast mein ganzes Leben lang ...«

»Hyperstimulation des Riechepithels. Die wirksamste Methode, um verschüttete Gedächtnisteile zu aktivieren. Der Geruch ist der mächtigste Auslöser für Erinnerungen.«

»Der Tomatenreis ... woher wussten Sie davon?« Najia flüstert, obwohl ihre Gedächtniseltern sie nicht hören, nur ihre vorherbestimmten Rollen spielen können.

»Ich bestehe aus Gedächtnis«, sagt die Kaih, und Najia keucht und krümmt sich unter einem neuen Migräneanfall, als der erinnerte Duft von Orangenblüten sie in die Vergangenheit wirft. Sie drückt die Tür auf, weitet den lichterfüllten Spalt. Ihre Eltern blicken vom Tisch auf, der von Lampen beleuchtet wird. Wie in ihrer Erinnerung steht die Uhr auf elf. Wie in ihrer Erinnerung fragen sie, was los ist, kannst du nicht schlafen, was hast du, mein Schatz? Wie in ihrer Erinnerung sagt sie, es sei wegen der Hubschrauber. Wie sie vergessen hat, liegt auf dem lackierten Kaffeetisch, unter den gerahmten Diplomurkunden, Qualifikationen und Mitgliedsurkunden von Gelehrtengesellschaften an der Wand, ein Stück schwarzer Samt von der Größe eines Malbuchs. Über den Samt verteilt, wie Sterne, so hell und strahlend im Licht der Leselampe, dass Najia nicht versteht, wie sie diesen Anblick jemals hat vergessen können, sind wie ein Sternbild Diamanten angeordnet.

Die Facetten umhüllen sie, schleudern sie weiter durch die Zeit wie einen Splitter in einem Kaleidoskop.

Es ist Winter. Die Aprikosenbäume sind kahl, trockener Schnee, scharf wie Splitt, sammelt sich widerstrebend in einer Wehe vor der wasserfleckigen weißen Mauer. Die Berge scheinen nahe genug zu sein, um Kälte auszustrahlen. Sie erinnert sich, dass ihr Haus das letzte dieser Einheit war. Vor ihrem Gartentor endete die Straße, und kahles Ödland erstreckte sich ununterbrochen bis zu den Hügeln. Hinter der Mauer war nichts mehr, nur noch Wüste. Das letzte Haus in Kabul. Jedes Jahr heulte der Wind über die weite Ebene und brach sich am ersten vertikalen Objekt, das ihm in die Quere kam. Sie erinnert sich nicht, jemals eine einzige reife Aprikose an den Bäumen gesehen zu haben. Sie steht da in ihrem Wollmantel mit Pelzkapuze und ihren Wellington-Stiefeln und ihren Handschuhen, die an einer Schnur aus ihren Ärmeln baumeln, weil sie letzte Nacht wie jede Nacht ein Geräusch im Garten gehört hat, und sie hat nachgesehen, aber es waren nicht die Soldaten oder die bösen Studenten, sondern ihr Vater, der in der weichen Erde zwischen den Obstbäumen gegraben hat. Jetzt steht sie auf der leichten Erhebung der frisch umgegrabenen Erde und hält eine Gartenschaufel in der Hand. Ihr Vater arbeitet im Krankenhaus und hilft Frauen, Babys zu bekommen. Ihre Mutter sieht fern, eine indische Soap Opera, die ins Pashtun übersetzt wurde. Alle sagen, dass die Sendung sehr albern und eine Zeitverschwendung und offensichtlich indisch ist, aber sie schauen sie sich trotzdem an. In ihren gerippten Winterstrumpfhosen geht sie in die Knie und fängt an zu graben. Immer tiefer, drehen und schaufeln, dann kratzt das grün emaillierte Blatt über Metall. Sie scharrt es frei und zieht das Ding heraus, das ihr Vater vergraben hat. Als sie es aufhebt, hätte sie das weiche formlose Ding beinahe fallen gelassen, weil sie denkt, dass es eine tote Katze ist. Dann versteht sie, was sie gefunden hat: die schwarze Tasche. Die andere schwarze Tasche, die für die besonderen Besuche. Sie greift nach den silbrigen Verschlüssen.

In Najia Askarzadahs Erinnerung endet die Geschichte, als ihre Mutter schreiend in der Küchentür steht. Danach folgen nur noch Fetzen aus Gebrüll, wütende Stimmen, Strafen, Schmerzen und wenig später die mitternächtliche Flucht durch die Straßen von Kabul, auf dem Rücksitz liegend, während die Straßenlampen wie langsame Stroboskopblitze vorbeiziehen. In der virtuellen Kindheit der Kaih spitzt sich der Schrei zu einem stechenden Geruch nach Winter zu, nach Kälte und Stahl und ausgetrockneten toten Dingen, bis sie davon geblendet wird. Dann erinnert sich Najia Askarzadah. Sie erinnert sich, wie sie die Tasche öffnet. Ihre Mutter stürmt über die Terrasse und wirft die Plastikstühle um, die dort jede Witterung überlebt haben. Sie erinnert sich, wie sie hineinschaut. Ihre Mutter ruft ihren Namen, aber sie blickt nicht auf. Drinnen ist Spielzeug, aus glänzendem Metall, aus dunklem Gummi. Sie erinnert sich, wie sie die Dinge aus rostfreiem Stahl mit den Handschuhen aufnimmt und ins winterliche Sonnenlicht hält: das Spekulum, die gekrümmte Nähnadel, der Löffel zum Ausschaben, die Spritzen und die Tuben mit Gel, die Elektroden, das geriffelte Gummi des elektrischen Knüppels. Ihre Mutter zerrt sie an der Pelzkapuze fort, schlägt ihr die Dinge aus Metall und Gummi aus den Händen, wirft sie auf den Gartenpfad, und der vom Frost gehärtete Kies zerfetzt ihr die Strumphose, schürft ihre Knie auf.