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Die feinknochigen Äste der Aprikosenbäume verflechten sich und befördern Najia Askarzadah in eine andere Erinnerung, die nicht ihre eigene ist. Sie war noch nie in diesem Korridor mit grünem Boden und Wänden aus Betonblocksteinen, aber sie wusste, dass er existiert. Es ist eine wahre Illusion. Es ist ein Korridor, wie man ihn in einem Krankenhaus erwartet, aber er hat nicht den Geruch eines Krankenhauses. Es gibt die großen durchsichtigen Schwingtüren eines Krankenhauses, die Farbe ist an den Metallecken abgewetzt, was auf häufige Benutzung schließen lässt, aber im grünen Korridor ist niemand außer Najia Askarzadah. Von einer Seite weht kalte Luft durch die Jalousie vor einem Fenster herein. Auf der anderen Seite gibt es beschriftete und nummerierte Türen. Najia geht durch eine Schwingtür, durch zwei, drei. Jedes Mal wird es etwas lauter, das Schluchzen einer Frau, die am Ende von allem angelangt ist, wo keine Scham oder Würde mehr übrig ist. Najia läuft auf das Gewimmer zu. Sie kommt an einer Krankenhausliege vorbei, die leer neben einer Tür steht. Die Liege hat Riemen für Fußknöchel, Handgelenke, Hüfte. Und für den Hals. Najia geht durch die letzte Tür. Das Schluchzen steigert sich zu einem schrillen Klagen. Es kommt aus dem letzten Zimmer auf der linken Seite. Najia drückt die Tür gegen den Widerstand der harten Feder auf.

Mitten im Raum befindet sich der Tisch, und mitten auf dem Tisch liegt die Frau. Neben ihr auf dem Tisch steht ein Rekorder mit angeschlossenem Mikrofon, das über ihrem Kopf hängt. Die Frau ist nackt, und ihre Hände und Füße sind an Ringen an den Ecken des Tisches gefesselt. Ihre Arme und Beine sind straff gespreizt. Ihre Brüste, die Schenkelinnenseiten und der rasierte Schamhügel sind mit Zigarettenbrandwunden übersät. Ein chromglänzendes Spekulum öffnet ihre Vagina für Najia Askarzadahs Blick. Ein Mann im Arztkittel und mit grüner Plastikschürze sitzt zu ihren Füßen. Er trägt eine dicke Schicht Kontaktgel auf einen kurzen elektrischen Knüppel auf, weitet das Spekulum bis zum Maximum und schiebt den Knüppel zwischen die stählernen Lippen. Die Schreie der Frau werden unverständlich. Der Mann seufzt, blickt sich einmal zu seiner Tochter um, hebt zum Gruß die Augenbrauen und drückt auf den Schalter.

»Nein!«, schreit Najia Askarzadah. Es gibt einen weißen Blitz, ein Krachen wie vom Untergang eines Universums. Ihre Haut schimmert im synästhetischen Schock. Sie riecht Zwiebeln Räucherstäbchen Sellerie und Rost, sie liegt auf dem Boden in der Designkabine von Indiapendent, und Thal beugt sich über sie. Ys hält ihren Hoek in der Hand. Schlagartige Unterbrechung. Ihre Neuronen zucken. Najia Askarzadahs Lippen bewegen sich. Es gibt Worte, die sie sagen, Fragen, die sie stellen muss, aber sie wurde aus der Anderwelt herausgeschleudert. Thal bietet ihr eine schlanke Hand an, fordert sie eindringlich auf.

»Kommen Sie, Schätzchen, wir müssen gehen.«

»Mein Vater, sie sagte ...«

»Eine ganze Menge, Baba. Hab eine ganze Menge gehört. Will’s gar nicht wissen, das ist etwas zwischen Ihnen und ihr. Aber jetzt müssen wir gehen.« Thal ergreift ihr Handgelenk und hilft Najia aus ihrer uneleganten Lage auf. Sys erstaunliche Kraft reißt sie aus dem Ansturm der Flashbacks — Aprikosenbäume im Winter, die Öffnung einer weichen schwarzen Tasche, der Gang durch den grünen Korridor, der Raum mit dem Tisch und dem verchromten MPEG-Rekorder.

»Sie hat mir meinen Vater gezeigt. Sie hat mich nach Kabul zurückgebracht, sie hat mir meinen Vater gezeigt ...«

Thal treibt Najia durch den Notausgang auf eine klappernde Stahltreppe.

»Ich bin mir sicher, sie hat Ihnen sehr viel gezeigt, damit Sie lange genug reden, um die Karsevaks zu unserem derzeitigen Aufenthaltsort zu führen. Pande hat angerufen, sie sind im Anmarsch. Baba, Sie sind zu vertrauensselig. Ich bin ein Neut, ich vertraue niemandem und mir selbst erst recht nicht. Kommen Sie jetzt mit, oder wollen Sie genauso enden wie unsere selige Premierministerin?«

Najia blickt zurück zu dem gekrümmten Bildschirm, der Chromlocke des Hoek, der auf dem Tisch liegt. Tröstende Illusionen. Sie folgt Thal wie ein kleines Kind. Der Treppenschacht ist ein Glaszylinder aus Regen, als befände man sich innerhalb eines Wasserfalls. Hand in Hand arbeiten sich Najia und Thal über die stählernen Stufen zum Ausgang vor.

Thomas Lull legt die letzte der drei Fotografien auf den Tisch. Lisa Durnau bemerkt seinen Taschenspielertrick. Die Reihenfolge ist umgekehrt: Lisa, Lull, Kij. Ein Zauberkunststück.

»Ich tendiere zu der Theorie, dass die Zeit alle Dinge in ihr Gegenteil verwandelt«, sagt Thomas Lull.

Lisa Durnau sitzt ihm am zerkratzten Melamintisch gegenüber. Das schnelle Tragflügelboot von Varanasi nach Patna ist stark überladen. Jedes Kämmerchen und jeder Winkel ist mit verschleierten Frauen und schlecht verschnürten Gepäckbündeln und tränenüberströmten Kindern vollgestopft, die sich verwirrt mit offenem Mund umblicken.

Thomas Lull rührt in seinem Plastikbecher mit Chai. »Erinnerst du dich an Oxford? Kurz bevor ...« Er verstummt und schüttelt den Kopf.

»Ich habe verhindert, dass sie ganz Alterre mit verdammter Coca-Cola-Werbung zukleistern.«

Doch sie kann ihm nicht sagen, welche Befürchtungen sie hinsichtlich der Welt hegt, die er ihr anvertraut hat. Sie war kurz in Alterre eingetaucht, während sie im Büro des Konsulats darauf wartete, dass ihr diplomatischer Status bestätigt wurde. Asche, verkohlter Fels, ein nuklearer Himmel. Kein Leben. Ein toter Planet. Eine Welt, die nach Thomas Lulls Philosophie genauso real ist wie jede andere. Sie kann nicht darüber nachdenken, kann nichts empfinden und darum trauern, wie sie sollte. Konzentrier dich auf das, was hier und jetzt ist, was vor dir auf dem Tisch liegt. Doch tief in ihrem Bewusstsein hat sich der Verdacht festgesetzt, dass die Auslöschung von Alterre mit den Geschichten und Menschen dieser Welt verknüpft ist.

»Mein Gott, L. Durnau. Ein Scheiß-Honorarkonsul.«

»Hat es dir in der Polizeiwache gefallen?«

»Genauso wie dir, als der Dunkle Lord dir in den Arsch gefickt hat. Du hast dich von ihnen in den Weltraum schießen lassen.«

»Nur weil sie dich nicht gefunden haben.«

»Ich hätte es nicht gemacht.«

Sie erinnert sich, wie sie ihn ansehen muss.

Er wirft die Hände in die Luft. »Okay, ich bin ein beschissener Lügner.«

Der Mann am Ende ihres Tisches dreht sich um und starrt den Westler mit der unfeinen Ausdrucksweise an.

Thomas Lull berührt vorsichtig, ehrfürchtig alle drei Fotos. »Ich habe darauf keine Antwort. Tut mir leid, dass du den weiten Weg hierher auf dich genommen hast, um das von mir zu hören, aber ich kann nichts dazu sagen. Und was ist mit dir? Auch dein Foto ist dabei. Ich weiß nur, dass wir es jetzt nicht mehr mit zwei Rätseln zu tun haben, sondern mit einem.« Er zieht seinen Palmer aus der Tasche, ruft das gestohlene Bild von Kijs Kopf auf, in dem die treibenden Diyas der Proteinprozessoren schimmern, und legt ihn neben ihre Fotos vom Tabernakel. »Wir sollten eine Vereinbarung treffen. Hilf mir, Kij zu finden und zu beweisen, was meiner Ansicht nach in Wirklichkeit mit ihr los ist, und ich werde sehen, was ich wegen des Tabernakels tun kann.«

Lisa Durnau zieht die Lade aus dem weichen Lederetui und legt sie an das andere Ende neben ihr Tabernakel-Porträt.

»Du fliegst mit mir zurück.«

Thomas Lull schüttelt den Kopf. »Auf gar keinen Fall. Du kannst alles weitergeben, aber ich kehre nicht zurück.«

»Wir brauchen dich.«

»Wir? Willst du mir jetzt sagen, dass es meine Pflicht als guter Bürger nicht nur der Vereinigten Staaten, sondern der großen weiten Welt ist, für diesen epochalen Moment des Erstkontakts mit einer ›außerirdischen Zivilisation‹ ein Opfer zu bringen?«