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»Du bist ein Arschloch, Lull.«

Wieder starrt der Mann herüber, als er die Obszönität aus dem Mund einer Frau hört. Das Tragflügelboot ruckt und knallt — offenbar ist es mit etwas unter Wasser zusammengestoßen.

An diesem Monsunmorgen ist das Tragflügelboot nach Patna ein Lastkahn für Flüchtlinge. Varanasi ist eine Stadt, die sich in Krämpfen windet. Die Schockwellen, die sich vom Sarkhand Roundabout ausbreiten, sind zu uralten Feindseligkeiten und Gehässigkeiten kristallisiert. Jetzt sind es nicht mehr nur die Neuts. Jetzt sind es die Muslime, die Sikhs, die Westler, während die Stadt Shivas krampfhaft zuckt und Opfer jagt. US-Marines eskortierten das Diplomatenfahrzeug von der Polizeiwache durch die hastig errichteten Kontrollpunkte der Bharati-Armee. Thomas Lull versuchte einen Sinn in der kleinen US-Flagge zu erkennen, die kühn auf dem rechten Kotflügel des Wagens flatterte, während Jawans und Marines sich gegenseitig Blicke zuwarfen. Sirenen dopplerten durch die Nacht. Über ihnen knatterte ein Hubschrauber. Der Konvoi fuhr an einer Reihe geplünderter kleiner Geschäfte vorbei, die stählernen Rollläden eingeschlagen oder herausgerissen. Ein mit jungen Karsevaks beladener Nissan-Pick-up fuhr neben ihnen her. Die Männer beugten sich herab, um in das Diplomatenfahrzeug zu blicken. Vom Ganja hatten sie große Augen, sie hatten sich mit Trishuls, Mistgabeln und alten Klingen bewaffnet. Der Fahrer grinste anzüglich, trat das Gaspedal durch und raste davon, begleitet von einem Hupkonzert. Überall roch es nach feuchter Verbrennung.

»Kij ist da draußen«, sagte Thomas Lull.

An der Anlegestelle des Tragflügelboots fiel heftiger Regen, gewürzt mit Rauch, aber die Stadt wagte sich immer wieder hinaus, ein Blick durch eine Tür, ein schneller Sprint, vorbei an ausgebrannten Marutis und geplünderten Läden von Muslimen, eine hastige Phatphat-Fahrt. Das Leben musste weitergehen. Die Stadt, die scheinbar den Atem angehalten hatte, erlaubte sich endlich, langsam und zitternd auszuatmen. Eine Menschenmenge schob sich beständig durch die schmalen Straßen zum Fluss. Mit Handkarren und Fahrradwagen, mit überladenenen Fahrradrikschas und Phatphats, mit hupenden Marutis und Taxis und Pick-ups hatten sich die Muslime auf den Weg gemacht. Thomas Lull und Lisa schlängelten sich durch den hoffnungslosen Verkehrsstau. Viele hatten ihre Fahrzeuge aufgegeben und entluden ihre geretteten Besitztümer: Computer, Nähmaschinen, Drechselbänke, aufgeblähte Bündel aus Bettwäsche und Kleidung, die mit blauen Plastikschnüren zusammengebunden waren.

»Ich war bei Chandra in der Universität«, sagte Thomas Lull, während sie sich durch einen Knoten aus verlassenen Fahrradrikschas zum Ghat zwängten, wo sich die separaten Flüchtlingsströme am Ufer zu einer vedischen Horde vereinigten. »Anjali und Jean-Yves arbeiteten an Mensch-Kaih-Interfaces, insbesondere an der Verknüpfung von Proteinchip-Matrizen mit Nervenstrukturen. Eine direkte Hirn-Computer-Verbindung.« Lisa Durnau musste sich bemühen, Thomas Lull im Blickfeld zu behalten. Sein knallblaues Surfhemd war wie ein Leuchtfeuer zwischen den Körpern und Bündeln. Man musste nur einmal auf diesen Steinstufen stolpern, und man war tot. »Der Anwalt hat Kij ein Foto gegeben. Von ihr nach irgendeiner Operation zusammen mit Jean-Yves und Anjali. Ich habe den Ort wiedererkannt, es war in Patna am neuen Bund-Ghat. Dann habe ich mich an etwas erinnert. Es war in Thekkady, als ich in den Strandclubs gearbeitet habe. Ich kannte die ganzen Emotika-Schmuggler, das meiste kam aus Bangalore und Chennai, aber es gab da einen Kerl, der das Zeug aus dem Norden importierte, aus der Freihandelszone von Patna. Er konnte alles, was man auch aus Bangalore bekam, zu einem Viertel des Preises liefern. Er fuhr einmal monatlich in den Norden, und ich erinnere mich, dass er mir von diesem grauen Mediziner erzählte, der Radikaloperationen für Männer und Frauen machte, die keine Männer oder Frauen mehr sein wollten, falls du verstehst, was ich meine.«

»Neuts«, brüllte Lisa Durnau über das Meer aus Köpfen hinweg. Die Besatzung des Tragflügelboots hatte das Tor zum Anlegesteg verbarrikadiert und ließ sich von den Händen, die durch das Gitter gestoßen wurden, Geld geben, um einzelne Flüchtlinge hindurchzulassen. Lisa schätzte, dass sie bereits die Hälfte der Strecke bis zum Tor zurückgelegt hatten, aber sie wurde allmählich müde.

»Neuts«, rief Thomas Lull zurück. »Die Vermutung ist weit hergeholt, aber falls ich recht habe, ist das das fehlende Bindeglied.«

Wozu?, wollte Lisa Durnau fragen, aber die Menge drängelte zu sehr. Das Tragflügelboot wurde von Sekunde zu Sekunde voller. Flüchtlinge standen hüfttief im Ganges, hielten Babys und Kinder hoch, die von der Besatzung unsanft mit Stangen zurückgestoßen wurden. Thomas Lull zog Lisa Durnau näher an sich. Sie kämpften sich bis zur Spitze der Schlange vor. Das Stahltor wurde geöffnet und wieder zugeschlagen. Körper knallten gegen das Gitter.

»Hast du grüne Scheine dabei?«

Eine Durchsuchung ihrer Tasche förderte dreihundert in Reiseschecks zutage. Thomas Lull hielt sie hoch.

»US-Dollars! US-Dollars!«

Der Steward winkte ihn heran. Seine Leute drängten die anderen Menschen zurück.

»Wie viel wie viel?«

Thomas Lull hob zwei Finger.

»Herein herein.«

Sie zwängten sich durch das kaum geöffnete Tor und gingen über den Landungssteg an Bord. Zehn Minuten später legte das Tragflügelboot extrem überladen ab und entfernte sich von der immer größer werdenden Menge an den Ghats. Für Lisa Durnau, die durch das schmutzige Fenster lugte, sah die Masse wie ein Blutgerinnsel aus.

In der überfüllten Lounge schiebt sie Thomas Lull die Lade zu. Er blättert die Seiten mit den Daten des Tabernakels durch.

»Wie ist es so im Weltraum?«

»Es stinkt. Es ist anstrengend. Man verbringt die meiste Zeit im Delirium und bekommt nie die Gelegenheit, etwas zu sehen.«

»Klingt ein bisschen wie ein Rockfestival. Das Erste, was mir daran auffällt, ist, dass ihr davon ausgeht, es müsse sich um das Artefakt einer außerirdischen Zivilisation handeln.«

»Wenn das Tabernakel sieben Milliarden Jahre alt ist, warum sehen wir dann nicht überall Spuren der Aliens, die es gebaut haben?«

»Eine Variante des Fermi-Paradoxons — wenn Aliens existieren, wo sind sie dann? Lass uns mal überlegen: Wenn wir für die Erbauer des Tabernakels eine Expanisionsrate von zehn Prozent Lichtgeschwindigkeit annehmen, hätten sie in sieben Milliarden Jahren alles von hier bis zur Sculptur-Galaxiengruppe kolonisiert.«

»Neben ihnen würde es nichts anderes mehr geben ...«

»Aber wir finden von ihnen nur einen beschissenen kleinen Asteroiden? Da stimmt doch etwas nicht. Außerdem, wenn das Ding fast doppelt so alt ist wie unser Sonnensystem ...«

»Woher wussten sie dann, dass wir irgendwann hier sind, um es finden zu können?«

»Dass dieser Wirbel aus Sternenstaub eines Tages dich, mich und Kij betreffen würde. Ich glaube, diese Theorie können wir verwerfen. Hypothese Nummer zwei: Es ist eine Botschaft von Gott.«

»Jetzt übertreibst du, Lull.«

»Ich gehe jede Wette ein, dass es sogar während des Frühstücksgebets im Weißen Haus geflüstert wurde. Das Ende der Welt ist nahe.«

»Dann wäre es gleichzeitig das Ende jeder rationalen Weltanschauung. Zurück ins Zeitalter der Wunder.«

»Genau. Ich bilde mir gern ein, dass mein Leben als Wissenschaftler keine völlige Verschwendung war. Also halte ich mich lieber an Theorien, in denen ein Körnchen Rationalität steckt. Hypothese Nummer drei: ein fremdes Universum.«

»Dieser Gedanke ist auch mir gekommen«, sagt Lisa Durnau.

»Wenn sich irgendjemand vorstellen kann, was es da draußen im Polyversum geben könnte, dann du. Der Big Bang bläht sich zu mehreren separaten Universen auf, in denen leicht abweichende physikalische Gesetze herrschen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es mindestens ein weiteres Universum mit einer Kij, einer Lull und einer Durnau gibt, liegt praktisch bei einhundert Prozent.«