»Sieben Milliarden Jahre alt?«
»Andere physikalische Gesetze. Die Zeit läuft schneller ab.«
»Hypothese Nummer vier.«
»Hypothese Nummer vier: Alles ist nur ein Spiel. Beziehungsweise eine Simulation. Ganz unten besteht die physikalische Realität aus Regeln und der Anwendung von Regeln, aus den simplen Programmen, die eine unberechenbare Komplexität hervorbringen. Die virtuelle Realität von Computern sieht exakt genauso aus ... was ich bekanntlich schon mein ganzes Leben lang behauptet habe, L. Durnau. Aber jetzt kommt der Haken. Wir beide existieren nur virtuell. Wir laufen als Wiederholungsprogramm auf dem finalen Computer am Omega-Punkt am Ende der Raumzeit. Dass unsere Realität virtuell rekonstruiert wurde, ist zwangsläufig wahrscheinlicher, als dass wir das Original sind.«
»Und nun schleichen sich Fehler ins System ein. Zum Beispiel ein rätselhafter sieben Milliarden Jahre alter Asteroid.«
»Und das bedeutet eine unmittelbar bevorstehende Wendung in der Handlung für die Sims.«
»Du wirst das Große und Mächtige Oz nicht zu sehen bekommen«, sagt Lisa Durnau.
»Wir sind definitiv nicht mehr in Kansas.«
Der Chai-Wallah kommt vorbei, schwingt seine Teekanne aus rostfreiem Stahl und leiert sein Mantra herunter: Chai, Kafi. Thomas Lull nimmt eine weitere Tasse.
»Ich verstehe nicht, wie du dieses Zeug trinken kannst«, sagt Lisa.
»Hypothese Nummer fünf: Für ein mysteriöses außerirdisches Artefakt ist es ein wenig klobig. Ich habe schon überzeugendere Spezialeffekte in Stadt und Land gesehen.«
»Ich verstehe, was du sagen willst. Es sieht aus, als hätten wir es gebaut — als wollten wir eine Art Botschaft an uns selbst schicken.«
»Eine, die wir nicht übersehen werden. Ein erdbahnkreuzender Asteroid, den man in eine ungewöhnliche Bahn lenkt.«
Lisa Durnau zögert. Das ist mehr als Visionieren. »Aus unserer Zukunft.«
»An dem Ding ist nichts, was wir nicht in den nächsten paar hundert Jahren zustande bringen werden.«
»Ist es eine Warnung?«
»Warum sonst sollte man etwas in die Vergangenheit schicken? Doch nur, wenn man die Geschichte drastisch verändern will. Unsere Zig-mal-Urenkel Lull und Durnau stehen vor einem Problem, mit dem sie nicht klarkommen. Aber wenn sie sich selbst ein paar hundert Jahre mehr Vorsprung geben ...«
»Ich kann mir nicht vorstellen, was für ein Problem sie haben, wenn sie Dinge durch den Zeitstrom schicken können, aber trotzdem in der Klemme stecken.«
»Ich kann es mir vorstellen«, sagt Thomas Lull. »Es geht um den Entscheidungskrieg zwischen Menschen und Kaihs. In dieser Zukunft haben wir es mit der Generation Zehn zu tun — einhundert Millionen Mal leistungsfähiger als eine Gen-Drei.«
»Das bedeutet, sie würden auf demselben Level operieren wie die Wolfram-Friedkin-Kodes, die unserer physikalischen Realität zugrunde liegen«, sagt Lisa Durnau. »Was bedeutet ...«
»Dass sie die physikalische Realität direkt manipulieren könnten.«
»Du sprichst hier von Magie. Um Gottes willen, Magie! Mensch, Lull! Ich habe Einwände. Erstens: Sie haben die Botschaft über sieben Milliarden Jahre zurückgeschickt?«
»Eine Gravitationsanomalie brachte den Staubnebel in Bewegung, aus dem sich unser Sonnensystem bildete. Ein vorbeiziehendes Schwarzes Loch wäre ein wunderbarer Ankerpunkt für ein Wurmloch durch die Zeit. Wenigstens wussten sie, dass wir irgendwann hier sein würden.«
»Sehr gut, Lull. Dann zu Einwand Nummer zwei: Die Botschaft ist reichlich unklar. Warum nicht ein einfaches ›Hilfe, wir haben mächtigen Ärger mit Künstlichen Intelligenzen, die so mächtig wie Götter sind‹?«
»Was glaubst du, welche Wirkung das haben würde? Wenn wir das Problem gelöst haben, werden wir für das bereit sein, was das Tabernakel uns zu sagen hat.«
»Du überzeugst mich nicht, Lull. Selbst mit Gen-Zehnern und Wurmlöchern und der Tatsache, dass wir uns durch die Übermittlung der Nachricht in ein Universum abspalten, wo wir gut vorbereitet sind, aber sie in ihrem Universum weiterhin zum Untergang verurteilt sind ... selbst in Anbetracht all dieser Dinge bleibt die Frage: Warum zum Teufel sind du, ich und ein achtzehnjähriges Mädchen, das mit Maschinen sprechen kann, von so großer Bedeutung?«
Thomas Lull zuckt mit den Schultern, jene grinsende Ist-mir-doch-egal-Geste, mit der er Lisa schon immer in den Wahnsinn getrieben hat, wenn sie in Sitzungen wie dieser seine Spekulationen wegargumentierte. Nun ruft Lull seine gestohlenen Bilder auf, die das Innere von Kijs Schädel zeigen.
»Jetzt deine Hypothese.«
»Also gut. Für mich ist das gar nicht das Mysterium, sondern die Bestätigung. Das Mysterium ist die Frage, wie sie die Awadhi-Roboter aufhalten konnte. Wenn wir also Magie und Gott ausschließen, bleibt nur noch Technik übrig. Und das da drinnen ist Technik, die einem menschlichen Gehirn ermöglicht, direkt mit einer Maschine zu kommunizieren. Sie hat sie gehackt.«
»Kein Gott, keine Götter«, sagt Thomas Lull.
Lisa spürt, wie der Rumpf stärker vibriert. Das Schiff drosselt den Wasserstrahlantrieb und lässt sich auf die Tragflügel nieder, während es sich den überfüllten Gewässern um Patna nähert. Durch das Fenster erkennt sie die billigen, massengefertigten Industrieanlagen und exurbanen Infotech-Bauten, die sich hinter den weiten, sandigen Ufern des Ganges ausbreiten.
»Was sieht sie? Einen Halo von Informationen rund um Menschen und Dinge. Sie sieht einen Vogel und nennt dir die wissenschaftliche Spezies. Es klingt wie aus Die Vogelwelt von Südwest-Indien. Im Bahnhof erzählt sie einer Familie, dass ihr Sohn verhaftet wurde, welchen Zug die Leute nehmen, an welchen Anwalt sie sich wenden sollen. Das sind Polizeiberichte, die gelben Seiten von Allahabad und der Zugfahrplan von Mumbai. Sie verhält sich in jeder Hinsicht wie jemand, dessen Gehirn ans Netz angeschlossen ist.«
Lisa streicht mit den Fingern über die geisterhaften Bilder auf der Lade.
»Das ist nur ... wie sie es macht. Ich weiß nicht, wer sie ist, ich weiß nicht, wie Jean-Yves und Anjali darin verwickelt sind. Aber ich weiß, dass jemand ein Mädchen genommen hat und aus ihr ein Experiment machte, ein monströses Versuchskaninchen für eine neue Gehirn-Maschine-Interface-Technologie.«
Die Passagiere rühren sich, sammeln ihre Angehörigen und Besitztümer um sich. Die kurze Atempause auf dem Wasser ist fast vorbei, nun müssen sie sich mit einer fremden, neuen, unbekannten Stadt auseinandersetzen.
»Bis zu diesem Punkt stimme ich dir uneingeschränkt zu, L. Durnau«, sagt Thomas Lull. »Aber ich glaube, dass es genau andersherum ist. Es geht nicht um ein System, das einem Menschen ermöglicht, mit einer Maschine zu interagieren. Dieses System ermöglicht Maschinen, mit einem menschlichen Gehirn zu interagieren. Sie ist eine Kaih, die in einen menschlichen Körper heruntergeladen wurde. Sie ist die erste und letzte Botschafterin der Generation Drei für die Menschheit. Ich glaube, deswegen gehören wir drei für das Tabernakel zusammen. Es ist die Prophezeiung einer Begegnung.«
Sie ist eine Waise in der Stadt der Götter und aus diesem Grund niemals allein. Götter rauschen hinter ihr wie Flügel, Götter umschwirren ihren Kopf, Götter purzeln und rollen zu ihren Füßen, Götter falten sich vor ihr auseinander wie eine Million sich öffnender Türen. Sie hebt eine Hand, und zehntausend Götter lösen sich voneinander und verschmelzen wieder. Jedes Gebäude, jedes Fahrzeug, jede Lampe und jede Neonreklame, jeder Straßenschrein und jede Ampel erbebt vor Göttern. Mit einem Blick kann sie hundert Phatphat-Fahrzeugzulassungen sehen, die Gebutsdaten und Adressen der Fahrzeughalter, ihren Versicherungsstatus, ihre Kreditwürdigkeit, ihre Schulausbildung und ihr polizeiliches Führungszeugnis, ihre Kontonummern, die letzten Zeugnisse ihrer Kinder, die Schuhgröße ihrer Frauen. Götter entrollen sich wie Papierschlangen. Götter durchweben sich gegenseitig wie Goldfäden in einem Seidenwebstuhl. Hinter dem Nachtleuchten ist der Horizont eine juwelenbesetzte Krone aus Gottheiten. Hinter dem Verkehrschaos, den Sirenen, den lauten Stimmen und dem Autohupen und der plärrenden Musik hört sie das Geflüster von neun Millionen Göttern.