»Ich bitte vielmals um Entschuldigung für meine Zurückhaltung.« Nanak hantiert mit Töpfen und einem Benares-Klapptisch aus Blech. Lisa Durnau nippt an ihrem Chai und mustert verstohlen ihren Gastgeber. In Kansas sind Neuts kein gewohnter Anblick. Die Details auf sys Haut, die leichten Erhöhungen, die sich den bloßen linken Arm hinunterziehen, die subdermalen Kontrollen für das Sexualsystem faszinieren sie. Sie fragt sich, wie es ist, wenn man seine Emotionen programmieren kann, wenn man bestimmen kann, wie man sich verliebt, wie einem das Herz bricht, wenn man seine Hoffnungen und Ängste neu definieren kann. Sie fragt sich, wie viele Arten von Orgasmus man gestalten kann. Aber die vordringlichste Frage in ihrem Kopf lautet: War ys männlich oder weiblich? Die Körperform, die Fettverteilung, die Kleidung — eine bewusst eklektizistische Mischung, die fließend und schlaff gehalten ist — geben keinen Hinweis. Männlich, entscheidet sie. Männer sind in ihrer sexuellen Identität unbestimmter.
Nanak gießt neuen Chai ein. »Wir wurden in letzter Zeit schikaniert. Die Australier passen auf mich auf, gute, nette Jungs. Und die Arbeit hier verlangt Diskretion. Aber dass Professor Thomas Lull mich aufsucht, ist eine große Ehre für einen bescheidenen Anbieter chirurgischer Dienstleistungen.«
Thomas Lull klappt seinen Palmer auf und legt ihn auf den Blechtisch.
Nanak zuckt zusammen, als er einen Blick auf den Bildschirm wirft. »Das war die komplexeste Operation, die ich jemals vermittelt habe. Wochenlange Arbeit. Wir haben ihr Gehirn fast vollständig auseinandergenommen. Lappen und Windungen aufgedröselt und an Drähten hängend. Außergewöhnlich.«
Lisa Durnau sieht, wie sich Thomas Lulls Gesicht anspannt.
Nanak legt ihm eine Hand aufs Knie. »Geht es ihr gut?«
»Sie versucht herauszufinden, wer ihre wahren Eltern sind. Sie hat erkannt, dass ihr Leben nur aus Lügen besteht.«
Nanaks Mund bildet ein tonloses Oh.
»Ich bin nur ein Anbieter von Dienstleistungen ...«
»Waren es diese beiden, von denen Sie den Auftrag erhalten haben?« Thomas Lull ruft das Bild vom Tempel auf, das ihn überhaupt erst zu dieser Pilgerreise veranlasst hat.
»Ja«, sagt Nanak und verschränkt die Hände in sys Schal. »Sie vertraten einen mächtigen Varanasi-Sundarban, den Badrinath-Sundarban. Das legendäre Domizil von Vishnu, glaube ich. Man hat mir zwei Millionen US-Dollar gezahlt, per Banküberweisung vom Konto der Odeco Corporation. Ich kann Ihnen weitere Details geben, wenn Sie möchten. Fast die Hälfte des Budgets ist in Wetware-Anwendungen geflossen. Wir mussten eine Methode finden, um Erinnerungen zu programmieren. Emotika-Designer sind nicht billig, obwohl ich glaube, dass wir hier in unserer Zone einige der besten von ganz Hindustan haben.«
»Budget«, sagt Thomas Lull verächtlich. »Wie bei einer beschissenen Fernsehserie ...«
Jetzt muss sich Lisa Durnau zu Wort melden. »Ihre Adoptiveltern in Bangalore, existieren sie wirklich?«
»Oh, alles gefälscht, Madam. Wir haben viel Geld ausgegeben, um eine glaubwürdige Lebensgeschichte aufzubauen. Um den überzeugenden Eindruck zu vermitteln, dass sie ein Mensch ist, mit einer Kindheit und Eltern und einer Vergangenheit.«
»Warum? Ist sie ...?«, fragt Lisa Durnau und fürchtet sich gleichzeitig vor der Antwort.
»Eine Kaih in einem menschlichen Körper«, sagt Thomas Lull, und nun hört Lisa das Eis in seiner Stimme, das gefährlicher ist als jede erhitzte Leidenschaft.
Nanak schaukelt auf sys Stuhl vor und zurück. »Korrekt. Verzeihen Sie mir, wenn es jetzt unappetitlich wird. Der Badrinath-Sundarban war der Host für eine Künstliche Intelligenz der Generation Drei. Wie Ihre Kollegen mir erzählten, sah der Plan vor, eine Kopie in die höheren kognitiven Ebenen eines menschlichen Gehirns herunterzuladen. Die Tilaka war das Interface. Eine höchst komplizierte chirurgische Arbeit. Wir haben drei Versuche gebraucht, bis alles stimmte.«
»Die Kaihs haben Angst, nicht wahr?«, sagt Thomas Lull. »Sie erkennen, dass das Ende naht. Wie viele sind noch übrig?«
»Nur drei, glaube ich.«
»Sie wollen wissen, ob sie mit uns Frieden schließen können oder ob sie zum Aussterben verurteilt sind, aber zunächst einmal müssen sie uns verstehen. Unsere Menschlichkeit verwirrt sie, unser Verhalten ist ein Wunder, in dem sie keinen Sinn erkennen, aber das ist der Grund für die gefälschte Kindheit. Wie alt ist Kij wirklich?«
»Es ist acht Monate her, seit sie hier von Ihren Kollegen abgeholt wurde — von denen sie glaubte, sie seien ihre wahren Eltern. Es liegt ein knappes Jahr zurück, als ich von der Badrinath-Kaih kontaktiert wurde. Sie hätten sie an dem Tag sehen sollen, als sie ging, sie war so strahlend, so fröhlich, als wäre alles wunderbar neu für sie. Das europäische Paar sollte sie nach Bangalore bringen — ihnen blieb nur wenig Zeit, während sich Erinnerungsebenen dekomprimierten. Wenn sie zu lange gewartet hätten, wären sie überschrieben worden, was katastrophale Folgen gehabt hätte.«
»Sie haben sie allein gelassen?«, fragt Lisa Durnau fassungslos. Sie versucht sich damit zu beruhigen, dass in Indien vieles anders ist, Leben und Individualität haben einen anderen Stellenwert als in Kansas und Santa Barbara. Trotzdem ist sie schockiert über das, was man mit einem jungen Mädchen angestellt hat.
»So war es geplant. Wir hatten uns die Geschichte zurechtgelegt, dass sie ein Jahr lang ihre Ausbildung unterbrochen hat und auf dem Subkontinent herumgereist ist.«
»Ist Ihnen während Ihrer Planungen und falschen Geschichten und Erinnerungsdekomprimierungen und chinesischen Präzisionschirurgie auch nur ein einziges Mal die Idee gekommen, dass eine menschliche Persönlichkeit sterben musste, damit diese Kaih überleben kann?« Thomas Lull ist der Kragen geplatzt. Lisa Durnau legt ihm eine Hand aufs Bein. Ganz ruhig. Entspann dich. Bleib friedlich.
Nanak lächelt wie ein seliger Weiser. »Nein, Sir. Das Kind war schwachsinnig. Keine Individualität, keinerlei Ich-Bewusstsein. Kein eigenes Leben. Nur so war es möglich, wir hätten gar keine normale Person benutzen können. Ihre Eltern waren froh, als Ihre Kollegen kamen und ihnen das Kind abkauften. Endlich hatte ihr Kind vielleicht doch eine Chance, mithilfe einer experimentellen neuen Technologie. Sie dankten Lord Vishnu ...«
Mit einem wortlosen Schrei springt Thomas Lull auf, die Fäuste geballt. Nanak flüchtet kriechend vor dem wütenden Mann. Lisa Durnau fängt Lulls Fäuste mit beiden Händen ein.
»Hör auf, lass es sein«, flüstert sie. »Setz dich, Lull, setz dich wieder.«
»Drecksack!«, brüllt Thomas Lull den Neut-Macher an. »Ich verfluche Sie und Kalki und Jean-Yves und Anjali!«
Lisa Durnau drückt ihn auf den Stuhl. Nanak rappelt sich wieder auf, klopft sich den Staub von der Kleidung, wagt es aber nicht, näher heranzukommen.
»Ich muss mich für meinen Freund entschuldigen«, sagt Lisa Durnau. »Er ist überreizt ...« Sie packt Thomas Lull an den Schultern. »Ich glaube, wir sollten gehen.«
»Ja, das wäre vielleicht das Beste«, sagt Nanak und wickelt sich enger in seine Schals. »In diesem Gewerbe ist Diskretion geboten. Ich kann mir keine lauten Stimmen leisten.«
Thomas Lull schüttelt den Kopf, angewidert von sich selbst und von den Worten, die in diesem Raum gefallen sind. Er streckt dem Neut eine Hand entgegen, die ys nicht annimmt.
An den Koffern sind kleine Plastikräder, die über die Straßen der Innenstadt rattern. Der Boden ist uneben, und die Griffe sind einfache Gurtschlaufen, und Krishan und Parvati laufen, so schnell sie können, so dass die Koffer alle paar Minuten aus dem Gleichgewicht geraten und umkippen. Die Taxis schießen spritzend an Krishans erhobener Hand vorbei, ständig patrouillieren Truppentransporter, und die Gesänge der Karsevaks kommen einmal von dieser Seite, dann von der anderen, dann von hinten, dann von vorn, so dass sie sich in Hauseingängen verstecken müssen, wenn sie vorbeirennen. Parvati ist erschöpft und völlig durchnässt, der Sari klebt ihr am Körper, ihr Haar hängt in Strähnen herab, und es sind immer noch fünf Kilometer bis zum Bahnhof.