»Zu viele Kleider«, witzelt Krishan. Parvati lächelt. Er hebt beide Koffer an, einen in jeder Hand, und marschiert weiter. Gemeinsam gehen sie geduckt durch die Straßen, huschen von Eingang zu Eingang, weichen vor Militärfahrzeugen zurück, rennen über Kreuzungen, ständig auf unerwartete Geräusche und plötzliche Bewegungen achtend.
»Nicht mehr weit«, lügt Krishan. Seine Unterarme sind verkrampft und schmerzen. »Sind bald da.«
Als sie sich dem Bahnhof nähern, tauchen Menschen aus den kapillaren Galis und Wohnstraßen auf, genauso wie sie beladen mit Taschen und Bündeln, befördert von Fahrradrikschas, Handwagen und Autos. Die Rinnsale vereinigen sich zu immer größeren Bächen und Flüssen, bis sie einen breiten Strom aus Köpfen bilden. Parvati klammert sich an Krishans Ärmel. Wenn sie hier auseinandergerissen werden, wären sie vielleicht für Jahre getrennt. Krishan watet weiter, die Fäuste fest um die Plastikgriffe geschlossen, die sich anfühlen, als würden sie aus brennender Kohle bestehen, die Halsmuskeln angespannt, die Zähne zusammengebissen, geradeaus blickend, an nichts anderes denkend als den Bahnhof den Zug den Bahnhof den Zug, und wie jeder Schritt ihn näher heranbringt, näher ans Ziel und den Moment, wo er seine Last absetzen kann. Jetzt watschelt er und versucht, sich im gleichen Tempo wie der Menschenstrom zu bewegen. Parvati ist ihm näher als ein Schatten. Eine Frau in vollständiger Burka drängt sich vorbei. »Was tun Sie hier?«, zischt sie. »Ihnen haben wir das alles zu verdanken.« Krishan treibt die Frau mit seinen Koffern zurück, bevor ihre Worte sich ausbreiten und den Zorn der Menge auf sie lenken. Denn erst jetzt sieht er, was er bereits den ganzen Weg vor Augen hatte: Die Muslime verlassen Varanasi.
»Glaubst du, dass wir einen Zug bekommen werden?«, flüstert Parvati. Da versteht Krishan, dass die Welt nicht wegen ihrer romantischen Vorstellungen stehen bleiben wird, dass sich die Menge nicht teilen und sie passieren lassen wird, dass die Geschichte ihnen keine Gnade gewähren wird, weil sie sich lieben. Es ist keine verwegene, romantische Flucht. Sie handeln dumm, blind und selbstsüchtig. Er verliert fast den letzten Mut, als sich die Straße auf den Platz vor dem Bahnhof öffnet und sich der Strom der Flüchtlinge in die größte Menschenmasse ergießt, die er jemals gesehen hat, mehr als jede Zuschauermenge, die sich je im Sampurnanand-Stadion versammelt hat. Er kann die Sparren und das durchsichtige Diamantfaserdach der Bahnhofshalle und die offenen Glasportale vor den Ticketschaltern sehen. Er kann am Bahnsteig den Zug sehen, der unter den gelben Lampen glänzt, bereits bis zum Dach beladen, obwohl immer mehr Menschen hinaufsteigen. Er kann die Soldaten als Silhouetten vor der Dämmerung auf ihren Panzerfahrzeugen sehen. Aber er sieht keinen Weg durch die Menschen, durch all die vielen Menschen. Und die Koffer, diese blöden Koffer, ziehen ihn hinunter, durch den Beton in den Boden, sie verankern ihn wie Wurzeln.
Parvati zerrt an seinem Ärmel. »Hier entlang.«
Sie zerrt ihn zu den Toren der Halle. Am Rand des Platzes ist das Gedränge erträglicher, weil sich die Flüchtlinge instinktiv von den Soldaten fernhalten. Parvati kramt in ihrer perlenbesetzten Schultertasche. Sie holt einen Lippenstift heraus, duckt sich kurz, und als sie sich wieder aufrichtet, hat sie ein rotes Bindi auf der Stirn.
»Bitte, um Shivas willen um Shivas willen!«, ruft sie den Soldaten zu, die Hände zu einem flehenden Namaskar zusammengelegt. Die Augen der Jawans bleiben hinter ihren verspiegelten, regenbenezten Visieren unsichtbar. Sie ruft lauter: »Im Namen von Lord Shiva!« Jetzt drehen sich die ersten Leute zu ihr herum, um zu starren und zu murren. Sie drängeln, ihr Zorn wird entfacht. Parvati fleht die Soldaten an. »Im Namen von Lord Shiva.«
Dann hören die Soldaten sie. Sie sehen ihren nassen, schmutzigen Sari. Sie lesen ihr Bindi. Jawans steigen von den Fahrzeugen, stoßen die Läufe ihrer Waffen in Richtung der Frauen und Kinder, zwingen sie zum Zurückweichen, obwohl sie die Soldaten im Namen ihres Gottes verfluchen. Ein Jemadar zeigt mit einer schnellen Geste auf Parvati und Krishan. Die Soldaten teilen sich, die beiden schlüpfen hindurch, die Waffen gehen wieder in die Horizontale, eine abweisende Barriere. Ein weiblicher Offizier treibt Parvati und Krishan zwischen die geparkten Transporter, die sogar im Regen nach heißem Biodiesel riechen. Stimmen erheben sich zu einem Sturm des Zorns. Parvati blickt zurück und sieht Hände, die ein Gewehr eines Jawans packen. Es bildet sich ein kurzes, heftiges Kräftegleichgewicht, dann hebt der Soldat neben ihm gelassen die Waffe und schlägt dem Aufrührer den Kolben gegen den Schädel. Der Muslim geht ohne einen Schrei zu Boden, die Hände an den Kopf gedrückt. Die Menge übernimmt den Schrei, den der Mann nicht ausgestoßen hat, er braust wie eine Sturmböe heran. Dann fallen Schüsse, und alle auf dem Platz werfen sich auf die Knie.
»Kommen Sie«, sagt die Jemadar. »Niemand wurde verletzt. Ziehen Sie den Kopf ein. Was machen Sie überhaupt hier? Was ist nur in Sie gefahren? Ausgerechnet an diesem Tag?« Sie schnalzt tadelnd mit der Zunge. Parvati findet, dass Bharati-Soldaten nicht mit der Zunge schnalzen sollten.
»Meine Mutter«, sagt Parvati. »Ich muss zu ihr, sie ist eine alte Frau, sie braucht mich, sie hat sonst niemanden ...«
Die Jemadar bringt sie zum Seiteneingang der Bahnhofshalle. Parvati fühlt sich plötzlich schwer wie Blei. Die Menschen, die vielen Menschen. Sie werden niemals hindurchkommen. Sie kann nicht sehen, wo sich die Ticketschalter befinden. Aber Krishan knallt die Koffer auf den Boden, zieht die Griffe heraus, wuchtet sie auf die kleinen zerfransten Plastikräder und drängt sich entschlossen in die Menge.
Die Sonne steigt über das durchsichtige Dach. Züge treffen ein, mehr Menschen, als Parvati sich bislang vorstellen konnte, drängen sich auf die Bahnsteige. Für jede Zugladung aus Flüchtlingen, die unter dem Diamantfaserdach des Hauptbahnhofs von Varanasi abfährt, schiebt sich von vorn eine neue in die Vorhalle. Parvati und Krishan werden Schritt für Schritt zu den Ticketschaltern gedrängt. Parvati betrachtet die Flachbildschirme, die vom Dach hängen. Etwas ist mit Frühstück mit Bharti passiert. Statt der Sendung läuft eine Videoschleife mit Ashok Rana, den sie noch nie gemocht hat, immer und immer wieder. Er sitzt hinter irgendeinem Studioschreibtisch. Er wirkt müde und ängstlich. Erst beim sechsten Mal versteht Parvati schockiert, was er sagt. Seine Schwester ist tot. Sajida Rana ist tot. Jetzt werden die Straßen, die Schüsse, die Menge, die Hektik, die Muslime und die Soldaten, die in die Luft feuern, mit einem Mal substanziell, zu miteinander verbundenen Dingen. Unwissend und unschuldig sind sie fortgerannt, mit Koffern in den Händen, mitten durch die Todeszuckungen von Mutter Bharat. Schlagartig wird ihr klar, wie egoistisch sie ist.
»Krishan. Wir müssen umkehren. Ich kann nicht gehen. Es war falsch ...«
Krishans Gesicht zeigt Erschöpfung und Fassungslosigkeit. Dann öffnet sich vor ihnen eine Lücke, und der Weg zu den Ticketschaltern ist frei. Der Angestellte sieht Parvati an, nur Parvati, und in wenigen Augenblicken wird die Lücke wieder implodieren.
»Krishan, der Ticket-Wallah!«
Sie drängt ihn zum Schalter, und der Ticket-Wallah fragt ihn, wohin er fahren will, und er weiß es nicht, und sie sieht, dass der Angestellte ihn fortscheuchen will, der Nächste bitte.
»Bhubaneshwar!«, ruft sie. »Zwei einfache Fahrten nach Bhubaneshwar.« Sie war noch nie in Bhubaneshwar, hat nie die Grenze zum alten Orissa überquert, doch im Kopf hat sie das Bild von wehender orange- und scharlachroter Seide, die Rath Yatra des Jagannath. Dann druckt der Ticket-Wallah die Tickets aus, nennt ihnen die Zugnummer und die Abfahrtszeit und den Bahnsteig und die reservierten Sitzplätze und schiebt die Papiere durch die Trennscheibe.