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»Weißt du, worum es geht?«, wendet sich Vishram an Ramesh, nachdem sie die Begrüßungen und Tränen und Ach-was-bist-du-groß-geworden-Beteuerungen hinter sich gebracht haben. Ramesh schüttelt den Kopf, während Shastri mit einem Finger nach einem Träger winkt, der Vishrams Koffer in sein Zimmer hinaufbringen soll. Vishram will keine Fragen nach dem Wagen beantworten, also schiebt er einen Jetlag vor und beschließt, zu Bett zu gehen. Er hat erwartet, wieder sein altes Zimmer zu bekommen, aber der Träger führt ihn zu einem Gästeschlafzimmer auf der Sonnenaufgangsseite des Hauses. Vishram ist beleidigt, weil man ihn wie einen fremden Besucher behandelt. Doch nachdem er seine paar Sachen in den riesigen Schränken und Kommoden aus Mahagoni verstaut hat, ist er froh, bei der Rückkehr aus seinem erwachsenen Leben nicht von den Dingen aus seiner Kindheit beobachtet zu werden. Sie würden ihn zurückzerren, ihn wieder zum Teenager machen. In diesem alten Haus gab es noch nie eine brauchbare Klimaanlage, so dass er sich nackt auf die Laken legt, angewidert von der Hitze. Dann erkennt er Gesichter im gemalten Laub an der Decke und horcht auf das Rütteln von Affenhänden und -füßen in den Ranken vor seinem Fenster. Er treibt bereits an der Grenze zum Schlaf und driftet ins Unbewusste ab, als er plötzlich wieder aufwacht, weil halb vergessene Geräusche aus der Stadt zu ihm durchdringen. Vishram gibt sich geschlagen und tritt nackt auf den eisernen Balkon. Die Luft und das Parfüm der Stadt bestäuben seine Haut. Ansammlungen blinkender Flugzeuglichter bewegen sich die dunstige gelbe Skyline entlang. Die Soldaten, die während der Nacht fliegen. Er versucht sich einen Krieg vorzustellen. Roboter, Killermaschinen, die durch die Gassen rennen, Titanklingen in allen vier Händen, Avatare von Kali. Kaih-Kampfjäger, deren Piloten sich auf der anderen Seite des Planeten befinden und die im Tiefflug über den Ganges herankommen. Awadhs amerikanische Verbündete kämpfen auf die moderne Weise, ohne dass ein einziger Soldat das Land verlässt, ohne einen einzigen Leichensack. Sie töten aus kontinentalen Entfernungen. Er befürchtet, dass die seltsame Szene, die heute auf der Straße aufgeführt wurde, prophetische Bedeutung hat. Zwischen der Wasserkrise und den Fundamentalisten ist den Ranas jeglicher Handlungsspielraum abhandengekommen.

Knirschender Kies und eine Bewegung auf dem silbrigen Rasen. Ram Das taucht aus dem Mondschatten unter den Harsingars auf. Vishram erstarrt auf dem Balkon. Eine weitere westliche Verhaltensweise, die er angenommen hat: zwanglose Nacktheit. Ram Das tritt auf den rasierten Rasen, teilt sein Dhoti und pisst unter dem trägen Mond von Indien, der den Kopf schief hängen lässt wie ein Tempel-Gandharva. Ram Das schüttelt ab, dreht sich um und wackelt dann langsam mit dem Kopf in Vishrams Richtung — ein Gruß, eine Segnung. Er geht weiter. Ein Pfau schreit.

Endlich zu Hause.

Zweiter Teil — SAT CHID EKAM BRAHMA

9

Vishram

Bis vor dreißig Minuten hat Vishram Ray sich der Tatsache gerühmt, nie einen Anzug besessen zu haben. Ihm ist stets bewusst gewesen, dass er eines Tages einen brauchen könnte, und für diesen Fall lässt er bei einer chinesischen Schneiderfamilie in Varanasi seine Maße, Angaben zu Stoff, Schnitt, Fütterung und zwei Hemden bereithalten. Diesen Anzug trägt er nun auf seinem Platz am Teaktisch im Sitzungssaal von Ray Power. Er ist vor einer halben Stunde per Fahrradkurier im Shanker Mahal eingetroffen. Vishram war noch dabei gewesen, den Kragen und die Manschetten zurechtzurücken, als die Wagenflotte vor der Treppe zum Haus hielt. Jetzt befindet er sich im zwanzigsten Stock des Ray Tower, und Varanasi ist ein versmogter brauner Fleck zu seinen Füßen und der Ganges eine ferne Locke aus angelaufenem Silber, während ihm immer noch niemand sagen will, worum es hier geht.

Diese Chinesen verstehen etwas von Stoff. Der Kragen sitzt perfekt. Er kann kaum die Nähte sehen.

Die Tür zum Sitzungssaal öffnet sich. Firmenanwälte strömen herein. Vishram Ray überlegt, wie die Sammelbezeichnung für Firmenanwälte lautet. Ein Flor? Eine Verscheißerung?

Die Letzte in der Reihe ist Marianna Fusco. Vishram Ray spürt, dass ihm der Mund offen steht. Marianna Fusco bedenkt ihn mit dem Hauch eines Lächelns, was erheblich weniger ist, als man von jemandem erwarten würde, mit dem man a) erstklassigen Sex hatte und b) in einen Straßenkrawall verwickelt war, und nimmt ihm gegenüber Platz. Unter dem Teaktisch klappt Vishram seinen Palmer auf und tippt unsichtbaren Text.

WAS ZUM TEUFEL MACHEN SIE HIER?

Das Personal öffnet die Doppeltür, um nun die Vorstandsmitglieder hereinzulassen.

ICH HABE IHNEN DOCH GESAGT, DASS ES UM EINE GESCHÄFTLICHE FAMILIENANGELEGENHEIT GEHT. Für Vishram sieht es aus, als würde Mariannas Nachricht über ihren Brüsten schweben. Sie trägt wieder den guten und außerordentlich praktischen Anzug. Aber auch er sieht gar nicht so schlecht aus. Die Banker und Vertreter der Kreditgenossenschaften und Grameen-Banken nehmen ihre Plätze ein. Viele der Leute aus den ländlichen Mikrokredit-Instituten haben sich ihr ganzes Leben lang noch nie so weit von der Erdoberfläche entfernt. Während Vishram sich gelassen mit der linken Hand Wasser einschenkt und mit der rechten IST DAS HIER EIN SPIEL? tippt, betritt sein Vater den Raum. Er trägt einen schlichten Anzug mit Rundkragen — die Länge der Jacke ist seine einzige Konzession an die Mode —, und trotzdem drehen sich alle Köpfe in seine Richtung. Sein Gesicht zeigt einen Ausdruck, den Vishram nicht mehr gesehen hat, seit er ein kleiner Junge war und sein Vater die Firma aufgebaut hat, die entschlossene Abgeklärtheit eines Mannes, der davon überzeugt ist, das Richtige zu tun. Hinter ihm folgt Shastri, sein Schatten.

Ranjit Ray begibt sich zum Kopfende des Tisches. Aber er nimmt seinen Platz nicht ein. Er begrüßt den Vorstand und die Gäste. Der große holzverkleidete Raum vibriert vor Anspannung. Vishram würde alles für einen solchen Auftritt geben.

»Kollegen, Partner, verehrte Gäste, meine liebe Familie«, beginnt Ranjit Ray. »Ich danke Ihnen allen, dass Sie heute gekommen sind, viele von Ihnen unter beträchtlichen Mühen und Kosten. Lassen Sie mich gleich zu Beginn sagen, dass ich Sie nicht um Ihr Erscheinen gebeten hätte, wenn ich nicht der Überzeugung gewesen wäre, dass es sich um eine Angelegenheit von eminenter Bedeutung für dieses Unternehmen handelt.«

Ranjit Rays Stimme ist ein sanfter, tiefer Gebetston, der ohne Verluste jeden Winkel des großen Raums erreicht. Vishram erinnert sich, niemals gehört zu haben, wie sein Vater die Stimme hebt.

»Ich bin jetzt achtundsechzig Jahre alt, drei Jahre über dem Alter, das nach westlichem Geschäftsethos als das Ende eines ökonomisch nützlichen Lebens betrachtet wird. In Indien ist es eine Zeit der Besinnung, der Kontemplation anderer Wege, die man hätte einschlagen können, die vielleicht noch eingeschlagen werden können.« Ein Schluck Wasser.

»Im Abschlussjahr meines Studiums der Ingenieurwissenschaften an der Hindu University of Varanasi habe ich erkannt, dass die Gesetze der Ökonomie den Gesetzen der Physik unterworfen sind. Die physikalischen Prozesse, die diesen Planeten und den Lauf des Lebens auf diesem Planeten beherrschen, setzen dem Wirtschaftswachstum eine genauso strikte Obergrenze, wie die Lichtgeschwindigkeit unsere Erforschung des Universums beschränkt. Mir wurde klar, dass ich nicht nur ein Ingenieur bin, sondern ein Hindu-Ingenieur. Aus diesen Einsichten zog ich eine weitere Schlussfolgerung. Wenn ich meine Fähigkeiten dazu einsetzen wollte, Indien zu helfen, zu einer starken und respektierten Nation zu werden, musste ich es auf die indische Weise tun. Ich musste es auf die Hindu-Weise tun.«

Er sieht seine Frau und seine Söhne an.

»Meine Familie hat diese Worte schon oft von mir gehört, und ich glaube, sie wird mir die Wiederholung verzeihen. Ich ging ein Jahr lang auf Pilgerfahrt. Ich folgte dem Bhakti und vollzog die Puja in den sieben heiligen Städten, ich badete in den heiligen Flüssen und suchte den Rat von Swamis und Sadhus. Und jedem von ihnen, an jedem Tempel und jeder heiligen Stätte, stellte ich die gleiche Frage.«