Wie kann ich als Ingenieur ein richtiges Leben führen?, sagt Vishram in Gedanken. Diese Predigt hat er in der Tat schon viel häufiger gehört, als er sich erinnern möchte: wie dieser Hindu-Ingenieur mit einer Crore Rupien von einer Mikrokreditgesellschaft einen kostengünstigen, wartungsfreien Solarstromgenerator aus Kohlenstoffnanoröhren für den Hausgebrauch baute. Nach fünfzig Millionen produzierten Einheiten, nach Alkoholkraftstoff-Raffinerien, Biomasse-Kraftwerken, Windparks, Meereswärmeströmungsgeneratoren und einer Forschungs- und Entwicklungsabteilung, die das indische Bewusstsein — das Hindu-Bewusstsein — in die Leere der Nullpunktenergie vorantreibt, ist Ray Power einer von Bharats — Indiens — führenden Konzernen. Eine Firma, die es auf die indische Weise geschafft hat, nachhaltig, mit Rücksicht auf die Erde und die Kreisläufe. Ein Unternehmen, das resolut um den Mahlstrom der internationalen Märkte herumnavigiert. Ein Konzern, der die aufregenden neuen architektonischen Talente Indiens beauftragt hat, eine Firmenzentrale aus nachhaltigem Holz und Glas zu errichten, und weiterhin Dalits in der Vorstandsetage willkommen heißt. Es ist eine große und inspirierende Geschichte, aber Vishrams Aufmerksamkeit schweift immer wieder zu Marianna Fuscos Brüsten unter dem Stretch-Brokat ab. Darauf erscheint eine Nachricht in keckem Lila. HÖR DEINEM VATER ZU.
BI-BA-BUTZEMANN, antwortet er.
WORTSPIELE SIND DIE NIEDRIGSTE FORM DER KOMIK, erwidert sie.
OH VERZEIHUNG, ICH DACHTE IMMER, ES WÄRE SARKASMUS, kontert er in Blau auf dem Revers seines wirklich sehr schnellen Anzugs. Weshalb er fast die Pointe verpasst hätte.
»Deshalb habe ich beschlossen, dass es an der Zeit ist, erneut die Frage aufzugreifen, wie sich ein richtiges Leben führen lässt.«
Vishram Ray blickt auf, seine Nerven sind elektrisiert.
»Heute um Mitternacht werde ich von meinem Posten als Vorsitzender von Ray Power zurücktreten. Ich werde meinen Wohlstand und meinen Einfluss aufgeben, mein Prestige und meine Pflichten. Ich werde mein Haus und meine Familie verlassen und erneut den Stab und die Schale des Sadhu aufnehmen.«
Im Sitzungssaal von Ray Power hätte es nicht stiller sein können, wenn man ihn mit Nervengas geflutet hätte. Ranjit Ray lächelt, versucht zu beschwichtigen. Vergeblich.
»Bitte verstehen Sie, dass ich diese Entscheidung nicht leichtfertig getroffen habe. Ich habe ausführlich mit meiner Frau darüber diskutiert, und sie stimmt mir in allen Punkten zu. Shastri, mein Assistent und Helfer in vielen Jahren, wird mich auf dieser Reise begleiten, aber nicht als Diener, da alle Unterschiede dieser Art heute Abend enden, sondern als Partner auf der Suche nach dem richtigen Leben.«
Die Teilhaber sind aufgesprungen, rufen durcheinander, stellen Fragen. Eine Dalit-Frau brüllt in Vishrams Ohr, was nun aus ihren Klienten, ihren Schwestern wird, aber Vishram bleibt völlig ruhig und distanziert, durch das Gefühl der Unvermeidlichkeit auf seinem Stuhl verankert. Es ist, als hätte er bereits in dem Moment, als er in Glasgow das Ticket auf seiner Türschwelle vorfand, gewusst, dass genau dies geschehen würde.
Ranjit Ray bringt die Anwesenden zum Schweigen. »Meine Freunde, bitte denken Sie nicht, dass ich Sie im Stich gelassen habe. Die erste Bedingung, die ein Mann erfüllen muss, der dem spirituellen Weg folgen will, ist die Aufgabe aller weltlichen Verantwortungen. Wie Sie wissen, versuchen andere Konzerne, diese Firma aufzukaufen, aber Ray Power ist in erster Linie ein Familienunternehmen, und ich bin nicht bereit, es fremden und unmoralischen Systemen des Managements zu überlassen.«
Tu es nicht, denkt Vishram. Sag es nicht.
»Aus diesem Grund trete ich die Leitung der Firma an meine Söhne Ramesh, Govind und Vishram ab.« Er wendet sich jedem Einzelnen zu, die Hände erhoben, als wollte er sie segnen. Ramesh wirkt, als sei auf ihn geschossen worden. Seine großen geäderten Hände liegen flach auf dem Tisch wie enthäutete Tiere. Govind bläst sich auf und blickt sich am Tisch um, teilt den Raum schon jetzt in Verbündete und Feinde auf. Vishram ist völlig benommen, ein Schauspieler, der sich in einem fremden Drehbuch wiederfindet.
»Ich habe vertrauenswürdige Berater ernannt, die euch durch die Übergangsphase führen werden. Ich setze großes Vertrauen in euch. Bitte versucht, euch dessen würdig zu erweisen.«
Marianna Fusco beugt sich über den weiten Tisch, eine Hand ausgestreckt. Ein Bündel aus zusammengebundenen Papieren liegt neben ihr auf der polierten Oberfläche. Vishram sieht ganz unten auf der Seite die gepunkteten Linien, die auf seine Unterschrift warten.
»Meinen Glückwunsch, und herzlich willkommen in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung, Mr. Ray.«
Er greift nach der Hand, die noch vor kurzer Zeit fest, trocken und weich seinen Schwanz umschlossen hat.
Plötzlich fällt ihm ein, woher er das Drehbuch kennt.
»Lear«, flüstert er.
10
Shiv
Yogendra lässt den Geländewagen mitten auf der Straße vor dem Musst stehen. Polizisten und Diebe respektieren gleichermaßen, dass der Parkplatz eines Raja dort ist, wo er sein Fahrzeug verlässt. Yogendra öffnet die Tür für Shiv. Fahrradrikschas machen klingelnd einen Bogen um ihn.
MUSST heute mit TALV verkündet die Neonschrift. Nachdem jetzt jeder personalisierte Kaih-DJs und einen eigenen Groove-Mix hat, werben Clubs mit ihren Barkeepern. Für die Gehaltsempfänger ist es noch zu früh in der Woche, um auf Frauenjagd zu gehen, aber die Mädchen sind schon anwesend. Shiv setzt sich auf seinen Hocker. Yogendra nimmt den Platz neben ihm. Shiv stellt das Fläschchen mit den Ovarien auf den Tresen. Die unterirdische Beleuchtung verwandelt es in ein Alien-Artefakt aus einem Hollywood-Sci-Fi-Film. Barkeeper Talv schiebt eine Glasschüssel mit Paan über die Fläche aus fluoreszierendem Kunststoff. Shiv nimmt sich einen Priem, stopft ihn sich in die Wange und lässt sich vom Bhang durchsickern.
»Wo ist Priya?«
»Hinten.«
Mädchen in Kniestiefeln und kurzen Röcken und Tops aus Haftseide drängen sich um einen Tisch, wo der Polychrom-Bereich beginnt. Im Zentrum, von einem Halo aus Cocktailgläsern umgeben, befindet sich ein zehnjähriger Junge.
»Verdammte Brahmanen«, sagt Shiv.
»Auch wenn er nicht so aussieht, er ist volljährig«, sagt Talv und schenkt zwei Gläser aus einem Shaker ein, der eine trügerische Ähnlichkeit zu Shivs Schatz aus rostfreiem Stahl hat.
»Da draußen gibt es gute Männer. Sie geben einer Frau alles, was sie haben will — ein gutes Heim, gute Chancen, damit sie nie arbeiten muss, eine gute Familie, Kinder, einen Platz weit oben auf der Leiter, und sie hängen an diesem Zehnjährigen wie ein Kalb am Euter«, sagt Shiv. »Ich würde sie alle erschießen. Das ist gegen die Natur.« Yogendra bedient sich vom Paan.
»Der Zehnjährige könnte diesen Laden zehnmal kaufen und verkaufen. Und er wird immer noch herumspringen, wenn wir beide längst zu den Ghats gegangen sind.«
Der Cocktail ist kühl und blau und tief und vertreibt das rote Paan in einen tiefen dunklen Winkel. Shiv blickt sich im Club Musst um. Keins seiner Mädchen wird heute Abend seine Aufmerksamkeit erregen. Alle, die nicht mit dem Brahmanen lachen, starren gebannt auf das Tisch-Tivi.
»Was fasziniert sie so?«
»Irgendeine Modegeschichte«, sagt Talv. »Irgendein russisches Model wird gerade herumgereicht, irgendein Neut — Yuri oder so ähnlich.«
»Yuli«, sagt Yogendra. Sein Zahnfleisch ist scharlachrot vom Paan. Das Licht ist blau, und die Perlenkette, die er stets um den Hals geknotet trägt, leuchtet wie Seelen. Rot, weiß, blau. Amerikanisches Grinsen. Seit Shiv mit ihm arbeitet, trägt er diese Perlen.