Madam Ovary lässt ihren Aktenkoffer zuschnappen.
»Mach dich nützlich. Gib mir dein Feuerzeug.«
Es ist ein altes Modell der US-Armee aus der Zeit, als sie Pakistan besetzt hatten. Als man noch Soldaten schickte, die rauchten, und nicht nur Maschinen. Madame Ovary entzündet das Feuer. Die Papiere verbrennen.
»Ich bin hier jetzt fertig«, sagt sie. »Danke für deine Aufträge. Ich wünsche dir alles Gute, aber versuch niemals, mit mir Kontakt aufzunehmen. Wir werden uns nicht wiedersehen, also verabschieden wir uns für dieses Leben.«
Im Auto schaltet Shiv das Radio an. Geplapper. Das ist alles, was diese DJs tun: plappern. Als wäre die einzige Möglichkeit, sie von Kaihs zu unterscheiden, ein unablässiger Strom von geistigem Dünnschiss, der sich aus ihrem Mund ergießt. Genauso wie der Ganges, ein endloser Fluss aus Scheiße. Du bist ein DJ, also spiel Musik. Die Leute wollen Musik hören, die ihnen ein gutes Gefühl gibt oder sie an jemand Bestimmtes denken lässt oder sie zum Weinen bringt.
Er lehnt sich gegen das Fenster. Im Licht des Armaturenbretts sieht er sein Gesicht im Halbprofil als geisterhafte Erscheinung über den Menschen auf der Straße. Aber es kommt ihm vor, als würde jeder dieser Menschen, auf den sein Bild fällt, einen Teil von ihm übernehmen.
Verdammtes Geplapper.
»Wohin bringst du mich, Junge?«
»Zum Kampf.«
Er hat recht. Letztlich gibt es keine andere Möglichkeit. Aber Shiv gefällt es nicht, dass der Junge ihm so nahe ist, dass er ihn beobachtet und sich Gedanken macht.
Kampf! Kampf!, pulsiert es. Shiv steigt die schmale Treppe hinunter und zupft seine Manschetten zurecht. Der Geruch nach Blut und Geld und unbehandeltem Holz, und unter seinem Brustbein wird Adrenalin freigesetzt. Er liebt diesen Ort mehr als alle anderen Orte der Welt. Er mustert die Klientel. Ein paar neue Gesichter. Das Mädchen am Geländer oben auf der Galerie, die mit der persischen Nase, sie gibt sich alle Mühe, cool zu wirken. Shiv nimmt Blickkontakt auf. Sie hält ihn lange genug. An einem anderen Abend. Jetzt sagt der Ausrufer die nächste Runde an, und Shiv geht hinunter zu den Tischen der Buchmacher. Draußen auf der Sonarpur Road löschen Feuerwehrfahrzeuge einen Brand, der im Aktenschrank eines Restaurants ausgebrochen ist, während etwas mit der Anatomie eines zehnjährigen Jungen und doppelt so großem Appetit seine pummeligen Finger auf die Shakti Yoni seines Mädchens zuschiebt, und eine Frau, deren Tod keinen Profit abwarf, treibt in der Strömung des Ganges dem Moksha entgegen, doch hier sind Menschen und Bewegung und Licht und Tod und Risiko und Furcht und ein Mädchen, das auf dem Sandplatz ihre großartige, silbrig getigerte Kampfkatze vorführt. Shiv zieht seine Krokodillederbrieftasche aus der Jacke, fächert Banknoten auf und legt sie auf den Tisch. Blau. Er sieht immer noch dieses Blau.
»Ein Lakh Rupien«, sagt Bachchan. Mehr ist nicht drin, auch nicht die Hoffnung auf mehr. Bachchans Schreiber zählt die Scheine und notiert den Betrag auf einem Zettel. Shiv nimmt seinen Platz an der Arena ein, und der Ausrufer brüllt Kampf! Kampf! Die Menge tobt und wogt, und Shiv geht mit. Er drückt sich gegen das Holzgeländer, um seinen Ständer zu verbergen. Dann ist er aus dem tiefen Blau raus, als das Fleisch des silbrig getigerten Mikrosäblers im Sand liegt und seine hunderttausend Rupien im Lederbeutel des Satta-Manns verschwinden. Fast hätte er gelacht. Ihm wird die Wahrheit der Sadhus bewusst: Es ist ein Segen, nichts zu besitzen.
Im Wagen bricht das Lachen aus ihm hervor. Shiv schlägt immer wieder den Kopf gegen die Fensterscheibe. Tränen laufen ihm übers Gesicht. Endlich kann er atmen. Endlich kann er sprechen.
»Bring mich zu Murfi«, ordnet Shiv an. Jetzt hat er einen Bärenhunger.
»Womit?«
»Im Handschuhfach ist Kleingeld.«
Die Tea Lane hält ihren Rauch und ihre Miasmen unter kuppelförmigen Schirmen gefangen. Sie dienen keinem meteorologischen Zweck. Murfi behauptet, seiner würde ihn vor dem Mondlicht schützen, das er als verderblich empfindet. Murfi behauptet vieles, nicht zuletzt, was seinen Namen betrifft. Er ist irisch, sagt er. Irisch wie Sadhu Patrick.
Die Tea Lane ist mit der Aufgabe gewachsen, die Männer zu bedienen, die Ranapur erbauten. Hinter den Reihen der Verkaufsstände mit warmem Essen, Gewürzen und Früchten öffnen sich die Holzrollläden der ursprünglichen Chai-Häuser zur Straße und ergießen ihre Blechtische und Klappstühle nach draußen. Über dem sanften Lärm von Gaskochern und Aufziehradios, die Hindi-Hits ausstoßen, brandet die niemals endende Flut von Soapi-Dialogen aus Hunderten von Wandschirm-Fernsehern. Zehntausend Kalender mit Soapi-Göttinnen hängen an Reißzwecken.
Shiv beugt sich aus dem Fenster und zählt Münzgeld in Murfis Affenhand.
»Und ein paar von diesen Pizza-Pakoras für ihn.« Shiv bedenkt sie mit dem gleichen Blick, den er für Affenscheiße-Pakora erübrigen würde, aber Yogendra gibt sich der Vorstellung hin, sie seien der Inbegriff eines coolen westlichen Snacks. »Murfiji, du sagst doch, dass du alles zu Pakora machst. Versuch’s hiermit.«
Murfi schraubt den Deckel des Fläschchens ab, vertreibt fuchtelnd die Trockeneiswolke und lugt hinein.
»Äh, was hast du da drin?«
Shiv sagt es ihm.
Murfi verzieht das Gesicht und gibt Shiv angewidert das Fläschchen zurück. »Nein, behalt es. Man weiß nie, ob vielleicht doch jemand auf den Geschmack kommt.«
Das ist kein Kommentar zu Murfis Kochkünsten, aber zwischen einem Bissen und dem nächsten verflüchtigt sich Shivs Appetit. Alle Leute blicken in dieselbe Richtung. Hinter Shiv. Shiv lässt die Zeitung mit dem gebratenen Zeug fallen. Straßenhunde stürzen sich darauf. Er reißt Yogendra den Mist aus den Händen.
»Lass den Scheiß liegen und bring mich ganz schnell von hier weg.«
Yogendra tritt auf die Pedale und schwenkt auf die plötzlich leere Straße, als etwas so heftig aufs Dach knallt, dass der Mercedes auf der Federung wippt. Ein Stoßdämpfer detoniert wie eine Granate, es blitzt blau und riecht nach verbrannter Elektrik. Der Wagen schaukelt auf den drei verbliebenen Aufhängepunkten. Etwas kommt näher. Yogendra jagt die Motorleistung hoch, aber der Wagen rührt sich nicht von der Stelle.
»Raus!«, befiehlt Shiv, als die Klinge durch das Dach fährt. Sie ist lang, gekrümmt wie ein Säbel, gezahnt und glänzend wie ein chirugisches Werkzeug. Sie durchsticht den Mercedes vom Dach bis zum Getriebeschacht. Als Shiv und Yogendra auf die Tea Lane stürzen, wird das Fahrzeug nach vorn gerissen und ergießt seine stählernen Eingeweide wie ein geopfertes Kitz.
Jetzt kann Shiv erkennen, was im Dach seines deutschen Metallschrotthaufens mit einem Wert von sechzig Millionen Rupien steckt. Obwohl es seinen Tod bedeutet, ist er durch den Anblick genauso paralysiert wie alle anderen schockierten Passanten auf der Tea Lane. Die Windschutzscheibe zerspringt unter dem Druck der Klinge. Die unteren Greifarme des Kampfroboters packen die Kanten und reißen das Dach auf. Der stumpfe Phallus der EM-Kanone sucht auf der Straße nach Shiv und fixiert ihn mit starrendem monokularem Blick. Doch damit kann er ihn nicht verletzen. Shiv verfolgt gebannt, wie sich die große Klinge aus dem Wrack zurückzieht, das einmal ein Mercedes der Serie 7 war, und sich horizontal ausrichtet. Die Kampfmaschine erhebt sich auf die Beine und stapft auf ihn zu. Sie trägt immer noch die Seriennummer und das kleine Sternenbanner an der Seite, aber Shiv weiß, dass der Pilot kein Teenager mit Gameboy-Reaktionsvermögen und Methamphetamin-Abhängigkeit ist, der in zwanzig Stockwerken Tiefe irgendwo im amerikanischen Mittelwesten eingeklinkt ist. Sondern eher jemand hinten in dem Lieferwagen, der vor dem 24-Stunden-Kino steht. Wahrscheinlich raucht dieser Jemand eine Bidi und fuchtelt mit den Händen im Cyberspace herum, während er den Kali-Tanz aufführt. Jemand, der ihn kennt.