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»Vielen Dank«, sagte Stephen Sanger. »Darin stecken eine ganze Menge interessanter Ideen ...«

Sie ließen ihn nicht aussprechen. Chris Drapier von der Level Three Artificial Intelligence Unit in Cambridge legte als Erster los. Er war der Gröbste und Lauteste und Pedantischste von allen, und Lisa hatte bemerkt, wie er in der Schlange vor dem Kaffeeautomaten ihren Hintern angestarrt hatte. Es gab keinen Grund, irgendeinen Deus ex Machina als Argument einzuführen, wenn die Quanteninformatik das alles wunderbar unter einen Hut brachte. So etwas war Vitalismus — nein, es war sogar Mystizismus. Als Nächste meldete sich Vicki McAndrews vom Imperial zu Wort. Sie nahm einen losen theoretischen Faden des Modells auf, zerrte daran und ließ das gesamte Gebäude einstürzen. Lisa hatte kein topologisches Modell für den Raum und nicht einmal einen Mechanismus zur Beschreibung dieses denkenden Universums. Lisa hörte nur noch ein helles Summen hinter ihren Augen — das, was man hörte, wenn man weinen wollte, es aber nicht durfte. Sie saß vernichtet zwischen den Kaffeetassen und Schokoladencroissantflecken. Sie wusste gar nichts. Sie hatte keinerlei Begabung. Sie war arrogant und dumm und riss das Maul auf, während jeder vernünftige Doktorand schweigend dagesessen und genickt hätte, während er die Kaffeetassen nachfüllte und die Kekse herumreichte. Ihr Stern hatte den absoluten Nadir erreicht. Stephen Sanger sagte etwas Ermutigendes, als Lisa sich nach draußen schlich, aber sie war völlig am Boden zerstört. Sie weinte den ganzen Weg zurück durch den Hyde Park, durch Bayswater und bis zur Paddington Station. Im Bahnhofsrestaurant kippte sie eine halbe Flasche Dessertwein hinunter — das Einzige auf der Speisekarte, um schnell genug betrunken zu werden. Sie saß am Tisch und zitterte vor Scham und Tränen und in der Gewissheit, dass ihre Karriere vorbei war. Sie konnte diese Sache nicht durchziehen; sie wusste nicht einmal genau, was die anderen gemeint hatten. Ihre Blase meldete sich zehn Minuten vor Abfahrt ihres Zuges. Sie saß in der Kabine, die Jeans um die Knie geknüllt, und bemühte sich, nicht laut zu schluchzen, weil die Akustik der Londoner Bahnhofstoiletten es verstärken würde, so dass jeder es hören konnte.

Und dann sah sie es in aller Deutlichkeit. Sie konnte gar nicht sagen, was genau sie sah, während sie auf die Tür der Toilettenkabine starrte. Es hatte keine Gestalt, keine Form, keine Worte oder Theoreme. Aber es war plötzlich da, vollständig und unvorstellbar schön. Und es war einfach. Es war völlig einfach. Lisa Durnau stürmte aus der Kabine, hetzte zum Schreibwarenladen und kaufte sich einen Block und einen großen Filzstift. Dann rannte sie zu ihrem Zug. Sie schaffte es nicht. Irgendwo zwischen dem fünften und sechsten Waggon traf es sie wie ein Blitz. Sie wusste genau, was sie zu tun hatte. Sie kniete schluchzend auf dem Bahnsteig, während ihre zitternden Hände versuchten, Gleichungen zu notieren. Ideen durchströmten sie. Sie stand in direkter Verbindung mit dem Kosmos. Die Abendschicht strömte um sie herum, ohne sie anzustarren. Alles in Ordnung, wollte sie den Leuten sagen. Alles ist einfach wunderbar.

M-Stern-Theorie. Es war die ganze Zeit da gewesen, genau vor ihrer Nase. Warum hatte sie es nicht gesehen? Elf Dimensionen, die in Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten verschlungen sind, drei davon entfaltet, eine zeitlich und sieben auf Planck-Länge zusammengerollt. Doch die Henkel, die Löcher in den Gebilden geben die Schwingungsenergien der Superstrings vor und damit die Harmonie, die ihre fundamentalen physikalischen Eigenschaften darstellen. Jetzt musste sie die Cybererde lediglich als Calabi-Yau-Raum modellieren und die Äquivalenz zu einer physikalischen Möglichkeit der M-Stern-Theorie beweisen. Alles lag nur in der Struktur. Da draußen gab es ein Universum mit einem eingebauten Bordcomputer. Dort waren Bewusstseine Teil des Gefüges der Realität, nicht nur als Möglichkeit in der Evolution des Kohlenstoffs angelegt wie in dieser Blase des Polyversums. Ganz einfach. Unglaublich einfach.

Während der gesamten Heimfahrt im Zug weinte sie vor Freude. Ein junges französisches Touristenpärchen saß ihr am Tisch gegenüber. Die beiden berührten sich jedes Mal nervös, wenn Lisa erneut in einem Anfall von Glückseligkeit erschauderte. Ihre Gefühlsausbrüche ließen sie immer wieder ihr Zimmer verlassen und durch Oxford streifen, während sie in der Woche darauf ihre Erkenntnisse niederschrieb. Jedes Gebäude, jede Straße, jedes Geschäft und jeder Mensch erfüllte sie mit intensivem Entzücken über das Leben und die Menschheit. Sie war in alle Dinge verliebt. Stephen Sanger hatte ihre Entwürfe durchgeblättert, und mit jeder Seite war sein Grinsen breiter geworden. Schließlich sagte er: »Sie haben sie an den Eiern gepackt!«

Als sie in Thomas Lulls Büro mit der viel zu kalten Klimaanlage saß, konnte Lisa Durnau immer noch das emotionale Nachglühen dieser Ausbrüche abrufen, wie das Mikrowellenecho des Urknallfeuers. Thomas Lull drehte sich mit seinem Stuhl herum und beugte sich zu ihr vor.

»Okay«, sagte er. »Sie sollten zwei Dinge über diesen Laden hier wissen. Das Klima ist unter aller Sau, aber die Leute sind verdammt freundlich. Seien Sie höflich zu ihnen. Vielleicht brauchen Sie sie noch.«

Zu Thomas Lulls Unterhaltung hat Dr. Darius Ghotse heute die Aufzeichnungen des britischen Comedy-Klassikers It’s That Man Again im Gepäckfach des Tricycles, mit dem er sich über die Sandwege von Thekkady vorwärtskämpft. Er freut sich schon darauf, die Datei in Professor Lulls Maschine einzuspeisen, worauf der Sprecher die Titelmelodie plärren wird. »Einhunderfünfzig Jahre alt!«, wird er sagen. »Das haben die Menschen in den Tunneln der Untergrundbahnen gehört, während die Bomben auf London fielen!«

Dr. Ghotse sammelt alte Radioprogramme. An den meisten Tagen kommt er vorbei, um mit Thomas Lull auf seinem Boot zu frühstücken, und dann sitzen sie unter dem Palmwedeldach, um Chai zu trinken und sich den fremdartigen Humor der Goons oder die hyperreale Comedy von Chris Morris’ Blue Jam anzuhören. Dr. Ghotse hat ein besonderes Faible für BBC Radio. Er ist Witwer und ehemaliger Kinderarzt, aber tief in seinem Herzen ist er Engländer. Er wünscht sich, Thomas Lull würde Cricket verstehen. Dann könnten sie sich gemeinsam die klassischen Reportagen von Aggers und Johnners anhören.

Er rattert den holprigen Weg entlang, der neben dem Backwater verläuft, und tritt nach Hühnern und unverschämten Hunden. Ohne zu bremsen, biegt er mit dem alten roten Dreirad ab, fährt den Landungssteg hinauf und weiter auf ein langes, mit Matten gedecktes Kettuvallam. Dieses Manöver hat er schon viele Male ausgeführt. Dabei ist er niemals im Wasser gelandet.

Thomas Lull hat tantrische Symbole auf sein Kokosnussdach gemalt, und auf dem Rumpf steht in Weiß Salve Vagina. Das ärgert die einheimischen Christen maßlos. Der Priester hat ihn darüber informiert. Thomas Lull hat ihn im Gegenzug darüber informiert, dass er (der Priester) ihn (Lull) kritisieren dürfe, wenn er es in genauso gutem Latein wie der Name seines Boots tun würde. Eine kleine Hochleistungssatellitenschüssel ist mit Klebeband am höchsten Punkt der schrägen Dachmatten befestigt. Im Heck schnurrt ein Alkoholgenerator.

»Professor Lull, Professor Lull.« Dr. Ghotse duckt sich unter der niedrigen Traufe und hält den Fileplayer hoch. Wie üblich riecht das Hausboot nach Räucherstäbchen, Alkohol und verdorbenem Essen. Das Schubert-Quintett läuft in mittlerer Lautstärke. »Professor Lull?«