Выбрать главу

Dr. Ghotse findet Thomas Lull in seinem kleinen, ordentlichen Schlafzimmer, das wie eine hölzerne Hülse ist. Seine Hemden und Shorts und Socken sind auf dem unberührten Bettzeug ausgebreitet. Er faltet seine T-Shirts korrekt zusammen, die Seiten in die Mitte, dann dreimal einschlagen. Ein Leben mit Koffern hat es zu einer festen Gewohnheit werden lassen.

»Was ist geschehen?«, fragt Dr. Ghotse.

»Zeit zum Weiterziehen«, sagt Thomas Lull.

»Also eine Frau?«, fragt Dr. Ghotse. Thomas Lulls Appetit auf und Erfolg bei den Girlis aus der Strandzone hat ihn immer wieder verblüfft. Männer im späteren Alter sollten selbstgenügsamer sein, ohne Bindungen.

»So könnte man es ausdrücken. Ich habe sie gestern Abend im Club getroffen. Sie hatte einen Asthmaanfall. Ich habe sie gerettet. Es gibt immer jemanden, der sich die Koronararterie mit Salbutamol verätzt. Ich habe angeboten, ihr ein paar Buteyko-Tricks beizubringen, worauf sie sich umdrehte und sagte: Also sehen wir uns morgen, Professor Lull. Sie kannte meinen Namen, Darius. Es wird Zeit für mich zu gehen.«

Als Dr. Ghotse den Professor kennenlernte, war Thomas Lull Verkäufer in einem alten Plattenladen, ein Strandgammler inmitten uralter Compact Disks und Vinylscheiben. Dr. Ghotse war ein seit Kurzem verwitweter Pensionär, der seine Trauer mit altmodischem Humor zu lindern versuchte. In diesem hämischen Amerikaner hatte er eine verwandte Seele gefunden. Nachmittage vergingen mit Gesprächen und alten Aufnahmen. Aber es dauerte trotzdem drei Monate, bis Dr. Ghotse den Mann aus dem Plattenladen zum Nachmittagstee einlud. Fünf Besuche später, als aus dem Nachmittagstee Abendgin geworden war und sie die erstaunlichen Sonnenuntergänge hinter den Palmen beobachteten, offenbarte Thomas Lull seine wahre Identität. Anfangs fühlte sich Dr. Ghotse verunglimpft, weil der Plattenverkäufer, den er kennengelernt hatte, ein einziges Lügengebilde war. Dann empfand er es als Bürde, denn er wollte nicht der Empfänger der Enttäuschung und der Wut dieses Mannes sein. Schließlich fühlte er sich privilegiert, da er ein Geheimnis von Weltrang kannte, mit dem er bei den Nachrichtenkanälen ein Vermögen hätte verdienen können. Es war ein großer Vertrauensbeweis. Am Ende wurde ihm bewusst, dass er mit den gleichen Absichten an Thomas Lull herangetreten war — dass er jemanden gesucht hatte, dem er sich anvertrauen konnte und der ihm zuhörte.

Dr. Ghotse steckt den Fileplayer zurück in seine Jackentasche. Heute also kein It’s That Man Again. Auch nicht irgendwann sonst, wie es scheint. Thomas Lull greift nach der gebundenen Blake-Ausgabe, die neben jedem Bett lag, in dem er sich jemals häuslich eingerichtet hat. Er wiegt das Buch in der Hand und legt es dann in den Koffer.

»Kommen Sie, ich habe Kaffee gemacht.«

Das Heck des Boots öffnet sich zu einer improvisierten Veranda, die von den allgegenwärtigen Kokosmatten beschattet wird. Dr. Ghotse lässt Thomas Lull zwei Tassen Kaffee einschenken, den er nicht besonders mag, und folgt ihm nach draußen zu den zwei vertrauten Stühlen. Kinder planschen im Wasser, das zwei Grad kühler ist als der Kaffee.

»Also«, sagt Dr. Ghotse. »Wohin werden Sie gehen?«

»Nach Süden«, sagt Thomas Lull. Bevor er es aussprach, hatte er keine Vorstellung von einem Ziel gehabt. Seit dem Tag, als er den ehemaligen Reis-Lastkahn am Ufer des Backwaters festmachte, hat Thomas Lull keinen Zweifel daran gelassen, dass er nur so lange hier sein wird, bis der Wind ihn weiterweht. Der Wind wehte, die Palmen peitschten, die Wolken zogen vorbei und ließen es nicht regnen, und Thomas Lull blieb. Irgendwann hatte er das Boot geliebt, das Gefühl der Entwurzelung eines Strandgutsammlers, der sich niemals selbst beweisen musste. Aber das Mädchen kannte seinen Namen. »Vielleicht Lanka.«

»Die Insel der Dämonen«, sagt Dr. Ghotse.

»Die Insel der Strandbars«, sagt Thomas Lull. Schubert erreicht das vorbestimmte Ende. Die Wasserkinder tauchen und planschen, und Tropfen kleben auf ihren dunklen, grinsenden Gesichtern. Aber jetzt ist die Idee in seinem Kopf und wird nicht mehr verschwinden. »Vielleicht nehme ich sogar ein Schiff nach Malaysia oder Indonesien. Dort gibt es Inseln, wo man niemals mein Gesicht erkennen wird. Dort könnte ich eine nette kleine Tauchschule eröffnen. Ja. Das könnte ich tun ... Verdammt, ich weiß es nicht.«

Er dreht sich um. Dr. Ghotse spürt es ebenfalls. Wenn man auf dem Wasser lebt, entwickelt man ein feines Gespür für Vibrationen, wie ein Hai. Die Salve Vagina reagiert mit leichtem Schaukeln, als jemand auf den Landungssteg tritt. Jemand ist an Bord gekommen. Das Kettuvallam verlagert seinen Schwerpunkt, während sich darauf ein Körper bewegt.

»Hallo? Hier drinnen ist es sehr dunkel.« Kij duckt sich unter dem Kokosvordach und kommt auf das Hinterdeck. Sie ist in dasselbe weite, fließende Grau gekleidet wie gestern Abend. Im Tageslicht wirkt ihre Tilaka noch auffälliger. »Verzeihung, Dr. Ghotse ist bei Ihnen. Ich kann später wiederkommen ...«

Sag es, denkt Thomas Lull. Ihre Götter haben dir diese eine Chance gegeben. Schick sie weg und verschwinde und schau dich nicht mehr um. Aber sie kannte seinen Namen, obwohl sie ihm nie zuvor begegnet war, und sie kennt Dr. Ghotses Namen, und Thomas Lull war noch nie in der Lage gewesen, einem Geheimnis zu widerstehen.

»Nein nein, bleiben Sie. Es gibt Kaffee.«

Sie gehört zu den Menschen, deren Lächeln das gesamte Gesicht verwandelt. Entzückt verschränkt sie die Hände.

»Liebend gern. Vielen Dank.«

Jetzt ist er verloren.

Die Uhr springt auf dreißig Stunden, und Lisa Durnau quillt aus den Tiefen ihres Gedächtnisses empor. Der Weltraum, erkennt sie, ist die Dimension der Verdrogten.

»He!«, krächzt sie heiser. »Gibt’s hier zufällig Wasser?« Ihre Muskeln fangen bereits an zu schrumpfen und zu verdorren.

»Das Röhrchen rechts von Ihnen«, sagt Captain Pilot Beth, ohne von ihren Instrumenten aufzublicken. Lisa dreht den Kopf und saugt warmes, abgestandenes, destilliertes Wasser. Die männlichen Freunde der Pilotin in der Station plappern und flirten. Sie haben niemals genug vom Reden und Flirten. Lisa fragt sich, ob sie es jemals schaffen, etwas zu erledigen. Oder sind sie so schwach und weich, dass alles, was einem Fick nahekommt, sie zerbrechen würde? Neue Erinnerungen schleichen sich an.

Lisa war zurück in Oxford und joggte. Sie liebte es sehr, in dieser Stadt zu laufen. Oxford ist großzügig mit Wegen und Grünflächen, und die Studenten pflegen die Kultur sportlicher Aktivitäten. Es war eine alte Route aus ihrer Keble-Zeit, am Kanal entlang, durch die Wiesen von Christ Church, die Bear Lane hinauf bis zum High, auf dem Weg zum Tor von All Souls Fußgängern ausweichen und dann weiter zur Parks Road. Die Strecke war gut, körperlich sicher, ihren Füßen vertraut. An diesem Tag bog sie hinter dem Merton rechts ab und lief durch den Botanischen Garten zum Magdalen, wo die Konferenz abgehalten wurde. Der Sommer stand Oxford gut. Studentengruppen kampierten auf dem Gras. Das dumpfe Stampfen und Brüllen eines Fußballspiels wehte über das Feld heran, Geräusche, die sie an der KU vermisst hatte. Sie hatte auch das Licht vermisst, jenes besondere englische Gold des frühen Abends mit dem Versprechen einer verführerischen Nacht. Auf dem Terminplan standen eine Dusche, ein kurzer Blick auf das völlig unerwartete Massenaussterben in der marinen Biosphäre von Alterre und ein Abendessen im High Table, eine hochoffizielle Geschichte in Kleidern und Anzügen, mit der die Konferenz abgeschlossen werden sollte. Es war viel besser, draußen auf den Straßen und bevölkerten Plätzen zu sein und das goldene Licht mottenweich auf der bloßen Haut zu spüren.

Lull wartete in ihrem Zimmer auf sie.

»Ich sehe dich, L. Durnau«, sagte er. »Ich sehe dich in diesen albernen hautengen Lycra-Shorts und diesem winzig-winzigen Top und mit deiner Wasserflasche in der Hand.« Er trat auf sie zu. Sie glänzte und stank nach Frauenschweiß. »Ich werde dir diese albernen kleinen Shorts vom Körper reißen.«