»Könntest du rüberkommen? Etwas ist passiert.«
So hatte seine Stimme noch nie geklungen. Erschrocken fuhr sie durch den ergrauenden frühen Morgen. An jeder Kreuzung beschwor ihre Phantasie neue Katastrophen und Möglichkeiten herauf, aber im Hintergrund stand die ganze Zeit ihre Hauptangst, dass man ihnen auf die Schliche gekommen war. Alle Lichter waren aus, und die Türen standen offen.
»Hallo Haus?«
»Hier drinnen.«
Er saß auf dem alten Ledersofa, das sie von Grillpartys der Fakultät und sonntäglichen Sportveranstaltungen kannte. Das Sofa und zwei Bücherregale waren die einzigen Möbel im Zimmer. Der Rest war vollständig ausgeräumt worden. Der Fußboden war nackt, an den Wänden hingen Bilderhaken wie umgekehrte spanische Fragezeichen.
»Sogar die Katzen«, sagte Thomas Lull. »Einschließlich der Spielzeugmäuse. Kannst du dir das vorstellen? Die Spielzeugmäuse! Du solltest das Arbeitszimmer sehen. Damit hat sie sich viel Zeit genommen. Sie hat sämtliche Bücher, Disks und Akten einzeln gecheckt. Ich vermute, es geht gar nicht so sehr darum, eine Frau zu verlieren, sondern eine Sammlung von italienischen Lieblingsopern.«
»Hast du ...?«
»Irgendwas geahnt? Nein. Ich bin hereinspaziert, und das war alles, was ich gesehen habe. Und das hier habe ich gefunden.« Er hob einen Zettel auf. »Die üblichen Sachen, hat nicht mehr funktioniert, tut mir leid, aber es geht nicht anders. Versuch nicht, Kontakt mit mir aufzunehmen. Sie hatte den Mumm, sich aufzuraffen und alles ohne Vorwarnung auszuräumen, aber wenn es um den herzlichen Abschied geht, bedient sie jedes verdammte Klischee aus dem Lehrbuch. Das ist so typisch.«
Inzwischen zitterte er.
»Thomas. Komm mit. Du kannst hier nicht bleiben. Komm mit zu mir.«
Er sah sie verdutzt an, dann nickte er.
»Ja, danke, ja.«
Lisa nahm seinen Koffer und dirigierte ihn zum Wagen. Plötzlich kam er ihr sehr alt und unsicher vor. Zu Hause machte sie ihm einen heißen Tee, den er trank, während sie das Gästebett herrichtete, aus reiner Rücksichtnahme.
»Würde es dir etwas ausmachen?«, fragte Thomas Lull. »Könnte ich in deinem Bett schlafen? Ich möchte jetzt nicht allein sein.«
Er lag zusammengerollt mit dem Rücken zu Lisa Durnau. Gestochen scharfe Bilder des entweihten Zimmers mit Lull, der so winzig wie ein kleiner Junge auf dem Sofa eines großen Mannes saß, ließen Lisa jedes Mal aus dem Schlaf hochschrecken, kaum war sie weggenickt. Schließlich schlief sie doch ein, als das Grau des Morgens ihr großes Schlafzimmer ausfüllte.
Fünf Tage später, nachdem jeder ihm gesagt hatte, dass sie eine blöde Zicke war und wie gut es ihm gehen würde und dass er darüber hinwegkommen und wieder glücklich sein würde und er immer noch seine Arbeit/Freunde/sich selbst hatte, verschwand Thomas aus den realen und virtuellen Welten — ohne ein Wort, ohne jede Vorwarnung. Lisa Durnau sah ihn nie wieder.
»Sie werden mir verzeihen, aber diese Asthma-Therapie kommt mir reichlich unorthodox vor«, sagt Dr. Ghotse.
Kijs Gesicht ist knallrot, ihre Augen treten hervor, ihre Finger zucken. Ihre Tilaka scheint zu pulsieren.
»Nur noch ein paar Sekunden«, sagt Thomas Lull. Er wartet, bis sie nicht mehr kann, und dann noch eine Sekunde länger. »Okay, jetzt einatmen.« Kij öffnet den Mund, um ekstatisch keuchend nach Luft zu schnappen. Thomas Lull legt die Hand darüber. »Durch die Nase. Immer durch die Nase. Nicht vergessen: die Nase zum Atmen, den Mund zum Sprechen.«
Er zieht die Hand zurück und beobachtet, wie sich ihr kleiner runder Bauch langsam aufbläht.
»Wäre es nicht einfacher, Medikamente zu nehmen?«, wirft Dr. Ghotse dazwischen. Er hält eine kleine Kaffeetasse sehr vorsichtig mit beiden Händen.
»Der Sinn dieser Methode«, sagt Thomas Lull, »liegt darin, nie wieder auf Medikamente angewiesen zu sein. Und anhalten.«
Dr. Ghotse mustert Kij, wie sie erneut die Lungen leert, indem sie langsam und pfeifend durch die Nase ausatmet und wieder die Luft anhält.
»Das sieht sehr nach einer Pranayama-Technik aus.«
»Es ist russisch, aus der Zeit, als sie kein Geld hatten, um sich Asthma-Medikamente zu kaufen.« Thomas Lull beobachtet Kij. »Und noch einmal. Es ist eine sehr einfache Theorie, wenn man akzeptiert, dass alles, was wir über das Atmen gelernt haben, völlig falsch ist. Nach Dr. Buteyko ist Sauerstoff Gift. In dem Moment, wo wir auf die Welt kommen, fangen wir an zu rosten. Asthma ist eine Reaktion des Körpers gegen die Aufnahme dieses giftigen Gases. Aber wir ziehen herum wie große Wale mit weit aufgerissenem Maul und nehmen Unmengen von brennendem O2 auf und reden uns ein, dass es uns guttut. Mit der Buteyko-Methode wird einfach nur das Gleichgewicht zwischen O2 und CO2 wiederhergestellt. Und wenn das bedeutet, dass man seinen Lungen Sauerstoff vorenthalten muss, damit sich ein gesunder Vorrat an Kohlendioxid aufbauen kann, dann tut man genau das, was Kij gerade tut. Und einatmen.« Mit blassem Gesicht wirft Kij den Kopf zurück und wölbt den Bauch vor, während sie inhaliert. »Okay, jetzt normal atmen, aber nur durch die Nase. Wenn Sie in Panik geraten, halten Sie ein paarmal den Atem an. Aber öffnen Sie nicht den Mund. Durch die Nase, immer nur durch die Nase.«
»Das kommt mir verdächtig einfach vor«, bemerkt Dr. Ghotse.
»Die besten Ideen sind immer die einfachsten«, erwidert Thomas Lull, der Barnum der Atmologie.
Nachdem er Dr. Ghotse auf seinem quietschenden Dreirad verabschiedet hat, bringt Thomas Lull das Mädchen zu ihrem Hotel. Lastwagen und Maruti-Mikrobusse rollen über die gerade weiße Straße und dudeln mit Mehrfachhupen. Thomas Lull hebt die Hand, wenn er einen Fahrer wiedererkennt. Er sollte gar nicht hier sein. Er hätte sie mit einem freundlichen Lächeln verabschieden sollen, um mit seiner Reisetasche zum Busbahnhof zu marschieren, sobald sie außer Sichtweite war. Und warum sagt er nun: »Sie sollten morgen zu einer weiteren Session wiederkommen. Es dauert eine Weile, bis man die Technik richtig beherrscht.«
»Ich glaube nicht, Professor Lull.«
»Warum?«
»Weil ich glaube, dass sie dann nicht mehr hier sein werden. Ich habe die Tasche auf Ihrem Bett gesehen. Ich glaube, Sie werden noch heute abreisen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil ich Sie gefunden habe.«
Thomas Lull sagt nichts. Er denkt: Kannst du meine Gedanken lesen? Ein Einbaum mit gurgelndem Alkoholmotor trägt ordentlich gekleidete Schulkinder über den Backwater-Kanal zur Landestelle.
»Ich glaube, Sie möchten wissen, wie ich Sie gefunden habe«, sagt Kij sanft.
»Wirklich?«
»Ja. Denn es wäre für Sie jederzeit einfacher gewesen zu gehen, aber Sie sind immer noch hier.« Sie bleibt stehen, und ihr Blick folgt einem dolchschnäbligen Vogel mit wilden Augen, der von der pastellblauen Kirche von St. Thomas durch die Palmen herabgleitet, deren Stämme mit weiß-roten Streifen bemalt sind, um den Verkehr zu warnen. Dann lässt er sich am Rand eines Floßes aus Koprahülsen nieder, die im Wasser aufweichen. »Ein Paddyreiher aus der Gattung der Schopfreiher, Ardeola grayii«, sagt sie, als würde sie ihre Worte zum ersten Mal hören. »Hm.« Sie geht weiter.
»Offenbar möchten Sie, dass ich danach frage«, sagt Thomas Lull.
»Falls das eine Frage ist, lautet die Antwort: Ich habe Sie gesehen. Ich wollte Sie finden, aber ich wusste nicht, wo Sie waren, also haben die Götter mich hier nach Thekkady zu Ihnen geführt.«
»Ich bin in Thekkady, weil ich nicht von Göttern oder sonst wem gefunden werden möchte.«
»Dessen bin ich mir bewusst, aber ich wollte Sie nicht finden, weil Sie Professor Lull sind. Ich wollte Sie wegen dieser Fotografie finden.«
Sie öffnet ihren Palmer. Trotz des Sprenkelschattens der Palmen ist das Sonnenlicht sehr stark und das Bild ausgebleicht. Es wurde an einem hellen Tag wie diesem aufgenommen. Drei blinzelnde Abendländer vor dem Padmanabhaswamy-Tempel in Thiruvananthapuram. Ein schmächtiger Mann mit bleicher Haut und eine südindische Frau. Der Mann hat einen Arm um die Hüfte der Frau gelegt. Der andere ist Thomas Lull, der grinsend in Hawaii-Hemd und unmöglichen Shorts dasteht. Er kennt das Foto. Es wurde vor sieben Jahren geschossen, nach einer Konferenz in New Delhi, als er sich einen Monat freinahm, um die Staaten des neu geteilten Indiens zu bereisen, eine Landmasse, die ihn schon immer zu gleichen Teilen fasziniert, abgestoßen und angezogen hat. Die Widersprüche von Kerala hielten ihn eine Woche länger als geplant gefangen, die Parfümmischung aus Staub, Moschus und von der Sonne versengten Kokosmatten, die Haltung uralter Überlegenheit gegenüber dem kastengeplagten Norden, die dunklen, übelriechenden, chaotischen Götter und ihre blutigen Rituale, die langwierige und erfolgreiche Erkenntnis der politischen Wahrheit, dass der Kommunismus ein Gesellschaftssystem des Überflusses und nicht der Knappheit war, das ständig wechselnde Treibgut aus Schätzen und Reisenden.