Mama Bharat ließ sich Zeit, auf Thals Klopfen zu reagieren. Sie schien Schmerzen zu haben, ihre Hände lagen unsicher auf der Verriegelung der Tür. Thal hatte sich mit einer Tasse Wasser gewaschen und die oberflächlichen Schichten des Schlafs und Drecks entfernt, aber der Rauch, der Suff und der Sex hatten sich tief eingegraben. Ys konnte das alles an sich selbst riechen, als ys sich auf das niedrige Sofa setzte und die leise gestellten Kabelnachrichten sah, während die alte Frau Chai machte. Dabei war sie sehr langsam und sichtlich geschwächt. Es machte Thal Angst, wie sie alterte.
»Also«, sagte Thal. »Ich glaube, ich habe mich verliebt.«
Mama Bharat setzte sich, lehnte sich zurück und wackelte verständnisvoll mit dem Kopf.
»Dann musst du mir alles darüber erzählen.«
Also erzählte Thal die Geschichte, von dem Moment, als ys durch Mama Bharats Tür hinausgetreten war, bis zur Karte auf dem Kopfkissen am tauben Morgen.
»Zeig mir diese Karte«, sagte Mama Bharat. Sie drehte sie in ihrer ledrigen Affenhand. Sie schürzte die Lippen.
»Ich weiß nicht recht, was ich von einem Mann halten soll, der eine Karte mit einer Clubadresse statt einer Privatadresse hinterlässt.«
»Ys ist kein Mann.«
Mama Bharat schloss die Augen.
»Natürlich. Verzeih mir. Aber er verhält sich wie ein Mann.« Staubteilchen stiegen im warmen Licht auf, das schräg durch die Lamellen der Holzjalousie hereinfiel. »Was empfindest du für ihn?«
»Dass ich in ys verliebt bin.«
»Danach habe ich nicht gefragt. Was empfindest du für ihn. Für ys.«
»Ich empfinde ... ich glaube, ich empfinde ... dass ich mit ys zusammen sein möchte, dass ich dorthin gehen möchte, wohin ys geht, dass ich sehen möchte, was ys sieht, dass ich tun möchte, was ys tut, nur damit ich all diese vielen kleinen Dinge erleben kann. Ergibt das irgendeinen Sinn?«
»Sehr sogar«, sagte Mama Bharat.
»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«
»Was sonst könntest du tun?«
Thal stand abrupt auf und rang die Hände. »Dann werde ich es tun. Ich werde es tun.«
Mama Bharat rettete Thals abgestelltes Teeglas vom Teppich, bevor ys ihn in sys wild entschlossener Aufregung mit heißem, süßem Chai tränken konnte. Shiva Nataraja, der Herr des Tanzes, beobachtete alles von seinem Platz auf der Kommode, den Fuß der Vernichtung auf ewig erhoben.
Thal verbrachte den Rest des Nachmittags mit dem Ritual des Ausgehens. Das war ein komplizierter Prozess, der damit begann, einen Mix festzulegen. STRANGE CLUB war sys mentaler Titel für das Projekt Tranh. Die DJ-Kaih stellte eine Auswahl aus Chill-Grooves und vietnamesisch-burmesisch-assamesischen Sounds zusammen. Thal zog sys Straßenkleidung aus und stellte sich vor den Spiegel, reckte die Arme über den Kopf, bewunderte sys runde Schultern, den kinderschlanken Torso, die vollen, geteilten Schenkel ohne jegliches Sexualorgan. Ys hob die Handgelenke, musterte im Spiegel die Gänsehaut der subdermalen Kontrollzapfen. Ys kontemplierte sys wunderschöne Narben.
»Okay, abspielen.«
Die Musik setzte mit einer Lautstärke ein, die den Boden vibrieren ließ. Sofort hämmerte Paswan nebenan gegen die Wand und brüllte etwas von Lärm und seinen Schichten und seiner armen Frau und den Kindern, die von pervertierten, abartigen Missgeburten in den Wahnsinn getrieben wurden. Thal namastierte sich selbst im Spiegel, tanzte dann vor der Garderobenkammer und zog den Vorhang mit einer ballettistischen Drehung zurück. Im Rhythmus schwankend begutachtete Thal sys Kostüme und wob Permutationen, Implikationen, Zeichen und Signale. Mr. Paswan schlug jetzt gegen die Tür und schwor, dass er ihn mit Feuer verjagen würde, er würde schon sehen. Thal legte sys Kombination auf dem Bett aus, tanzte vor dem Spiegel, öffnete sys Make-up-Boxen in strenger Von-rechts-nach-links-Reihenfolge und machte sich für die Komposition bereit.
Als schließlich die Sonne in prächtigem luftverschmutztem Scharlach- und Blutrot unterging, war Thal angekleidet, geschminkt und hochgefahren. Die Paswans hatten das Hämmern schon vor einer Stunde aufgegeben und begnügten sich nun mit Schluchzen. Thal ließ den Chip vom Player auswerfen, steckte ihn in sys Handtasche und trat hinaus in die wilde, wilde Nacht.
»Bringen Sie mich hierhin.«
Der Phatphat-Fahrer blickte auf die Karte und nickte. Thal klinkte sich wieder in den Mix ein und sackte ekstatisch auf der Rückbank in sich zusammen.
Der Club lag ein Stück abseits einer unscheinbaren Gasse. Nach Thals Erfahrung traf das normalerweise auf die besten Clubs zu. Die Tür bestand aus geschnitztem Holz, das nach vielen Jahren Hitze und Luftverschmutzung grau und fasrig geworden war. Thal vermutete, dass sie noch aus der Zeit vor den Briten stammte. Ein dezentes Kamera-Bindi blinkte. Auf sys Berührung hin schwang die Tür auf. Thal stellte sys Mix ab, um zu horchen. Traditionelle Dhol und Bansuri. Thal nahm einen tiefen Atemzug und trat ein.
Das Haus war einst ein großes Haveli gewesen. Balkone aus dem gleichen verwitterten grauen Holz erhoben sich fünf Stockwerke hoch um den zentralen Hofgarten herum, der nun überglast war. Man hatte Pharm-Bananen und andere Kletterpflanzen wild wuchern und die Holzsäulen hinaufranken lassen, damit sie sich an den Streben der Glaskuppel ausbreiten konnten. Trauben aus Biolum-Lampen hingen vom Zentrum des Dachs wie fremdartige, faulige Früchte, Öllaternen aus Terrakotta waren auf dem gekachelten Boden verteilt. Überall Flackern und Schatten. Aus den Nischen in den hölzernen Säulengängen drangen leise Gespräche und das musikalische Plätschern eines lachenden Neuts. Auf einer Matte am Pool in der Mitte — ein seichtes, mit Lilien gesprenkeltes Rechteck — saßen sich die Musiker gegenüber, auf ihre Rhythmen konzentriert.
»Willkommen in meinem Heim.«
Die kleine Frau, zierlich wie ein Vogel, war wie ein Gott in einem Film erschienen. Sie trug einen scharlachroten Sari und das Bindi einer Brahmanin und hatte den Kopf schief gelegt. Thal schätzte ihr Alter auf fünfundsechzig oder siebzig. Ihr Blick zuckte über sys Gesicht.
»Bitte fühlen Sie sich hier wie zu Hause. Ich habe Gäste aus allen Gesellschaftsschichten, aus Varanasi und anderswo.« Sie pflückte eine daumengroße Banane von einem breitblättrigen Trieb, schälte sie und bot sie Thal an. »Essen Sie, nur zu. Sie wachsen wild.«
»Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber ...«
»Sie wollen wissen, was sie bewirkt. Sie stimmt Sie darauf ein, wie wir hier sind. Mit einer fängt man an, so machen wir es hier. Es gibt viele Varietäten, aber mit denen an der Tür fängt man an. Die übrigen werden Sie auf Ihrer Reise kennenlernen. Entspannen Sie sich, mein Hübsches. Sie sind hier unter Freunden.« Sie bot erneut die Banane an. Als Thal sie annahm, bemerkte ys den Plastikring hinter dem rechten Ohr der gealterten Frau. Der geneigte Kopf, der ausweichende Blick fanden damit eine Erklärung. Ein Blindenhoek. Thal nahm einen Bissen von der Banane. Sie schmeckte nach Banane. Dann wurde ys sich der Details in den Holzschnitzereien bewusst, des Musters der Kacheln, der Farben und der Webart der Dhuris. Die einzelnen Teile der Musik wurden unterscheidbar, wie sie umeinander herschlichen und sich ineinander verschlangen. Eine Verschärfung der Fokussierung. Eine Steigerung der Bewusstheit. Ein Leuchten im Hinterkopf wie ein inneres Lächeln. Thal verzehrte den Rest der Banane mit zwei Bissen. Die alte blinde Frau nahm die Schale entgegen und legte sie in einen kleinen Abfallbehälter aus Holz, der bereits halb mit schwarz werdenden, duftenden Schalen gefüllt war.