Thal legte einen Finger auf seine Lippen.
»Niemals«, flüsterte ys. »Niemals fragen, niemals verraten. Vor meinem Ausstieg war ich eine andere Inkarnation. Ich bin erst jetzt am Leben, verstehen Sie? Das davor war ein anderes Leben. Ich bin gestorben und wurde wiedergeboren.«
»Aber wie ...?«, fragte der Mann.
Wieder legte Thal sys weichen, blassen Finger auf die Lippen des Mannes. Ys spürte sie zittern, das Flattern des warmen, süßen Atems. »Sie sagten, Sie wollten zuhören«, erinnerte Thal ihn und hüllte sich in sys Schal. »Mein Vater war ein Choreograph in Bollywood, einer der ganz großen. Haben Sie mal Rishta gesehen? Die Nummer, wo sie im Verkehrsstau über die Autodächer tanzen? Die ist von ihm.«
»Ich fürchte, ich habe nicht allzu viel für Filme übrig«, sagte der Mann.
»Am Ende wurde es zu camp. Zu selbstreferentiell, zu bewusst. So läuft es immer ab. Zuerst wird alles maßlos übertrieben, dann stirbt es. Er hat meine Mutter auf dem Set von Verliebte Anwälte kennengelernt. Sie ist Italienerin, sie wurde an der Hovercam ausgebildet — damals war Mumbai führend auf dem Gebiet. Selbst die Amerikaner schickten Leute hierher, um sie in der Technik ausbilden zu lassen. Die beiden lernten sich kennen, sie heirateten, und sechs Monate später kam ich. Und bevor Sie fragen: Nein. Ein Einzelkind. Sie waren die Stars von Chowpatty Beach, meine Eltern. Ich war auf allen Partys, ich gehörte zum lebenden Inventar. Ich war ein großartiges Kind, Baba. Wir waren ständig in den Filmi-Magazinen und den Tratsch-Gazetten, Sunny und Costanza Vadher mit ihrem hübschen Kind, wie sie auf der Linking Road einkaufen, auf dem Set von Aap Mujhe Acche Lagne Lage, beim Grillfest der Chelliahs. Sie waren die egoistischsten Menschen, denen ich jemals begegnet bin, aber sie waren sich dessen nicht im Geringsten bewusst. Das hat Costanza mir vorgeworfen, als ich meinen Ausstieg ankündigte, wie unglaublich egoistisch das von mir war. Können Sie sich das vorstellen? Was glaubt sie, wo ich so etwas gelernt habe?«
Thal schüttelte mit gezierter Empörung den Kopf. »Sie waren keineswegs dumm. Sie waren ziemlich egoistisch, aber nicht dumm. Ihnen muss klar gewesen sein, was geschehen würde, als man anfing, mit Kaihs zu arbeiten. Zuerst traf es die Schauspieler — eben noch waren Chati und Bollywood Masala und Namaste! voll mit Vishal Das und Shruti Rai bei einer Premiere im Club 28, und als Nächstes kam die dreifach ausklappbare Mittelseite von Filmfare ohne einen einzigen Quadratzentimeter lebende Haut aus. Es ging wirklich so schnell.«
Der Mann murmelte höfliches Erstaunen.
»Sunny konnte einhundert Menschen auf einem riesigen Laptop tanzen lassen, aber jetzt war nur noch eine Berührung nötig, und man konnte sie von hier bis zum Horizont tanzen lassen, alle in perfektem Einklang. Millionen können auf den Wolken tanzen, mit nur einem Klick. Ihn traf es am härtesten. Er wurde böse, er wurde bissig, er ließ es an den Menschen um ihn herum aus. Er wurde gemein, wenn es sich gegen ihn wendete. Ich glaube, das könnte der Grund sein, warum ich zu den Soapis wollte, um ihm zu zeigen, dass es etwas gab, das er hätte tun können, wenn er es nur versucht hätte, wenn er nicht so sehr auf sein Image und seinen Status fixiert gewesen wäre. Andererseits liegt es vielleicht auch daran, dass mir das alles nicht so wichtig ist. Doch kurz danach traf es auch Costanza. Wenn man keine Schauspieler und Tänzer mehr braucht, braucht man auch keine Kameras mehr. Es ist alles im Kasten. Sie stritten sich. Ich muss zehn oder elf gewesen sein. Ich konnte ihr Geschrei hören, so laut, dass die Nachbarn gegen die Tür hämmerten. Die beiden zusammen in einer Wohnung, den ganzen Tag lang, beide arbeitslos, aber eifersüchtig wie der Teufel, falls der andere tatsächlich etwas bekam. Abends gingen sie zu denselben Partys und Durbars, um zu plaudern. Bitte, einen Job! Costanza kam besser damit klar. Sie passte sich an, sie erhielt einen anderen Job im Gewerbe, in der Drehbuchentwicklung. Sunny konnte das nicht. Hat alles hingeschmissen. Verdammter Mistkerl. Verdammter Mistkerl. Er war sowieso ein Versager.«
Thal griff nach dem Arak und nahm einen bitteren Zug. »Es ging zu Ende. Ich würde sagen, dass es wie im Film war, der Abspann rollt über den Bildschirm, die Lichter gehen an, und wir sind wieder in der Wirklichkeit, aber so war es nicht. Es gab keinen dritten Akt. Kein ›Trotz aller Widrigkeiten nahm es ein glückliches Ende‹. Es wurde schlimmer und schlimmer, und dann war es einfach vorbei. Es hörte auf, als wäre der Film gerissen, und ich lebte nicht mehr in einem Apartment in Manori Beach, und ich war nicht mehr an der John Connon School, und ich ging nicht mehr auf all die Partys mit all den Stars, die sagten: Ach schau mal, ist es nicht süß, und sieh mal, wie groß es geworden ist! Ich wohnte mit Costanza in einer Zweizimmerwohnung in Thane, ging auf die katholische Schule Bom Jesus, und es war furchtbar. Einfach nur furchtbar. Ich wollte alles zurückhaben, all die Magie und den Tanz und den Spaß und die Partys, und diesmal wollte ich, dass es auch nach dem Abspann weiterging. Ich wollte nur, dass alle mich ansehen und sagen: Wow. Einfach nur das. Wow.«
Thal lehnte sich zurück und wartete auf Bewunderung, aber der Mann wirkte eingeschüchtert, und da war noch etwas, das Thal nicht identifizieren konnte.
»Sie sind ein außergewöhnliches Geschöpf«, sagte sein Gegenüber. »Haben Sie jemals das Gefühl, in zwei Welten zu leben, und keine davon ist real?«
»Zwei Welten? Schätzchen, es gibt Tausende von Welten. Und sie alle sind so real, wie man sie haben möchte. Ich sollte es wissen, ich habe mein ganzes Leben zwischen solchen Welten verbracht. Keine ist real, aber wenn man sie betritt, sind sie alle gleich.«
Der Mann nickte, aber es war keine Zustimmung zu etwas, das Thal gesagt hatte, sondern eine Antwort auf irgendeinen inneren Dialog. Er bestellte die Rechnung und legte ein Häufchen Scheine auf das kleine Silbertablett.
»Es ist schon spät, und ich habe morgen früh noch einige Geschäfte zu erledigen.«
»Was für Geschäfte?«
Der Mann lächelte in sich hinein. »Sie sind schon die zweite Person, die mich heute Abend danach fragt. Ich arbeite im Informationsmanagement. Danke, dass Sie mit mir hierhergekommen sind, und für Ihre angenehme Gesellschaft. Sie sind wirklich ein außergewöhnlicher Mensch, Thal.«
»Sie haben mir Ihren Namen nicht genannt.«
»Nein, ich glaube, das habe ich nicht getan.«
»Das ist so männlich«, sagte Thal und folgte dem Mann auf die Straße, wo dieser bereits ein Taxi heranwinkte.
»Sie könnten mich Khan nennen.«
Etwas hatte sich verändert, dachte Thal, als ys sich auf den Rücksitz des Maruti fallen ließ. Khan war im Banana Club nervös, schüchtern, schuldbewusst gewesen. Selbst im Restaurant hatte er sich nicht entspannt. Etwas in sys Geschichte hatte seine Gedanken und seine Stimmung bewegt.
»Nach Mitternacht fahre ich nicht zum White Fort«, sagte der Fahrer.
»Ich bezahle Ihnen das Dreifache«, sagte Khan.
»Ich fahre so nahe ran wie möglich.«
Khan lehnte den Kopf gegen die dreckige Kopfstütze. »Wissen Sie, es ist wirklich ein ausgezeichnetes kleines Restaurant. Der Besitzer kam vor etwa zehn Jahren hierher, mit der letzten Welle der kurdischen Diaspora. Ich ... habe ihm geholfen. Er hat den Laden aufgebaut, es geht ihm recht gut. Ich vermute, auch er ist ein Mann, der zwischen zwei Welten gefangen ist.«
Thal hörte nur mit halbem Ohr zu und räkelte sich im warmen Schimmer des Arak. Ys lehnte sich gegen Khan, um seine Wärme, seine Festigkeit zu spüren. Ys ließ sys inneren Arm zwischen sie rutschen. Die Knospenreihen waren im Lichtschein der Straße gerunzelt wie die Zitzen einer Hündin. Thal sah, wie der Mann bei ihrem Anblick zusammenzuckte. Dann stach eine Hand unter den Bund von sys Lounging-Hose, ein Gesicht tauchte über ys auf, ein Mund presste sich auf sys. Eine Zunge drückte, um sich Zugang zu sys Körper zu verschaffen. Thal stieß einen erstickten Schrei aus, Khan zuckte erschrocken zurück, was Thal genug Platz verschaffte, um zu stoßen und zu rufen. Das Phatphat kam ruckend mitten auf dem Highway zum Stehen. Im nächsten Moment hatte Thal die Tür aufgerissen und war draußen. Hinter ys flatterte sys Schal, bevor ys wirklich bewusst geworden war, was ys tat.