Thal rannte.
Thal hört auf zu rennen. Ys steht keuchend da, die Hände auf die Schenkel gestützt. Khan ist immer noch da, starrt durch das verschwommene Scheinwerferlicht in das Verkehrsgewühl. Thal unterdrückt ein Schluchzen. Ys kann immer noch sein Aftershave auf sys Haut riechen, seine Zunge in sys Mund schmecken. Zitternd wartet ys eine Sicherheitsspanne von ein paar Minuten ab, bevor ys ein entgegenkommendes Phatphat heranwinkt. DJ Kaih spielt MIX FÜR EINE GRAUSIGE WENDUNG DER NACHT.
15
Vishram
Neuer Tag, neue Schlachtordnung. Jeder von den Reinigungskräften bis zum Abteilungsleiter, die sich unter dem Vordach des Ranjit Ray Research Centre versammelt haben, macht einen nervösen Eindruck. Aber nicht annähernd so nervös wie euer völlig unerwarteter und unvorbereiteter neuer Firmenchef, denkt Vishram Ray, als der Wagen mit sinnlichem Knirschen den geharkten Kiesweg hinauffährt. Vishram überprüft die Manschetten, zupft den Kragen zurecht.
»Du hättest eine Krawatte tragen sollen«, sagt Marianna Fusco. Sie ist kühl, makellos, alle Falten geometrisch angeordnet.
»Das Krawattentragen habe ich in diesem Leben hinter mir«, sagt Vishram, blickt in den Frisierspiegel in der Kopfstütze des Chauffeurs und glättet sich das Haar mit angeleckten Händen. »Außerdem wird dir jeder Kostümhistoriker erklären, dass der einzige Zweck einer Krawatte darin besteht, auf den Schwanz zu zeigen. Das ist nicht sehr hindumäßig, muss ich sagen.«
»Vishram, alles an dir zeigt auf deinen Schwanz.«
Vishram glaubt, den Fahrer leise kichern zu hören, als er die Tür öffnet.
»Mach dir keine Sorgen, ich deck dir den Rücken«, flüstert Marianna Fusco ihm ins Ohr, während er entschlossen die Treppe hinaufsteigt. In seinem Kopf erwacht sein Hoek zum Leben. Für einen Moment verschwimmt sein Sichtfeld, als die Kaih den Müll löscht und die Werbung filtert, dann marschiert er auf den Leiter des Zentrums zu, die Hand zur Begrüßung ausgestreckt. GANDHINAGAR SURJEET steht in blauen Buchstaben vor dem Mann. GEB. 21.01.2009. EHEFRAU: SANJUAY. KINDER: RUPESH (7), NAGESH (9). KAM 2043 ZUR FORSCHUNGS- UND ENTWICKLUNGSABTEILUNG, VON DER UNIVERSITY OF BANGALORE, FORSCHUNGSABTEILUNG ERNEUERBARE ROHSTOFFE. ERSTE PROMOTION IN ... Vishram blinzelt die ergänzenden Informationen weg.
»Mr. Ray, wir heißen Sie in unserer Abteilung herzlich willkommen.«
»Es ist mir eine Freude, hier zu sein, Dr. Surjeet.«
Eigentlich geht es nur darum, eine Rolle zu spielen.
»Sie werden feststellen, dass wir nur unzureichend vorbereitet sind«, sagt er.
»Sie sind nicht halb so unvorbereitet wie ich.« Der Scherz scheint gut anzukommen. Andererseits müssten sie dann doch lachen, oder? Dr. Surjeet dreht sich zu seinen Sektionsleitern um.
INDERPAL GAUR, erklärt der unbarmherzige Palmer. GEB. 15.08.2011 IN CHANDIGARH. FORSCHUNGSUNTERABTEILUNG BIOMASSE. FAMILIENSTAND: SINGLE. SEIT 2034 BEI RAY POWER BESCHÄFTIGT, VON DER UNIVERSITY OF THE PANJAB, CHANDIGARH CAMPUS.
LASS IHN SEINE LEUTE VORSTELLEN, warnt Marianna in Lila über dem Kopf von Surjeet. Dr. Gaur ist eine breit grinsende mollige Frau in traditionellem Kleid, obwohl der Hoek aus eloxiertem Aluminium, der sich seitlich an ihren Zopf schmiegt, überhaupt nichts Altmodisches hat. Er fragt sich, was ihr Hoek über ihn graffitiert. VISHRAM RAY: VERZOGENER SOHN, GESCHEITERTER ANWALT, MÖCHTEGERN-KOMIKER. HÄLT SICH SELBST FÜR UNGLAUBLICH WITZIG.
»Es ist mir eine große Ehre«, sagt sie namastierend.
»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite«, versichert Vishram ihr.
Und so weiter, die Reihe der Sektionsleiter, Wissenschaftler und Teamchefs hinunter bis zu denen, die wichtige Arbeiten publiziert haben.
»Ich bin Khaleda Husainy«, sagt eine kleine, sehr präsente Frau in westlichem Anzug mit Tschador-Kopftuch. »Es ist mir ein großes Vergnügen, Sie kennenzulernen, Mr. Ray.« Ihr Fachgebiet ist Mikroenergieerzeugung. Parasitäre Energie.
»Was, Menschen erzeugen Energie, indem sie einfach nur hin und her laufen?«
»Über Pumpen in den Gehwegen, ja!«, begeistert sie sich. »Da draußen wird unglaublich viel Energie verschwendet, die wir nur nutzen müssen. Alles, was Sie tun und sagen, ist eine Energiequelle.«
»Dann sollten Sie unbedingt unsere Rechtsabteilung an einen Generator anschließen.«
Das bringt ihm einen Lacher ein.
»Und was tun Sie, um Ray Power zur Nummer eins im Geschäft zu machen?«, fragt Vishram eine junge, fast gutaussehende Frau, deren Namensschild am Kragen sie als Sonia Yadav identifiziert.
»Nichts«, sagt sie mit einem Lächeln.
»Aha«, sagt Vishram und geht weiter. Er muss noch viele Hände schütteln, sich Gesichter einprägen.
»Wenn ich ›nichts‹ sage«, ruft die Frau ihm nach, »meine ich damit Energie aus dem Nichts. Unbegrenzte kostenlose Energie.«
»Jetzt haben Sie meine Aufmerksamkeit.«
»Ich bringe Sie ins Nullpunktlabor«, erklärt Sonia Yadav, während sie Vishram und sein Gefolge in ihre Forschungssektion führt. Sie mustert ihn sehr genau.
»Ihre Augäpfel bewegen sich. Schickt Ihnen jemand Nachrichten?«
Vishram schaltet Marianna Fuscos lautlosen Kommentar mit einer Fingerbewegung ab.
Die Ingenieure seines Vaters haben ein Gebäude entworfen, das eher Möbel als Architektur ist. Alles besteht aus Holz und Textilien, zu Bögen und Kuppeln geformt, durchscheinend und luftig. Hier riecht es nach Pflanzensaft, Harz und Sandelholz. Die Böden bestehen aus abgezogenem Ahorn mit Intarsien, die Szenen aus dem Ramayana zeigen. Sonia Yadav blickt vielsagend auf Mariannas Absätze. Sie zieht die Schuhe aus und steckt sie in ihre Handtasche. Für Vishram fühlt es sich richtig an, hier barfuß zu gehen. Es ist ein heiliger Ort.
Auf den ersten Blick ist Vishram vom Nullpunktlabor enttäuscht. Es gibt keine summenden Maschinen oder elektrischen Spulen, sondern nur Schreibtische und Glastrennwände, wacklige Papierstapel auf dem Boden und Weißwandtafeln an den Wänden. Die Tafeln sind vollgeschrieben, und die Notizen setzen sich auf den Wänden fort. Jeder Quadratzentimeter Oberfläche ist mit Symbolen und Buchstaben ausgefüllt, die sich in ungewöhnlichen Winkeln aneinanderdrängen, von Lassoschleifen aus schwarzem Filzstift eingefangen, von langen Linien und Pfeilen in Blau und Schwarz harpuniert, die einen Bezug zu irgendeinem Theorem auf der anderen Seite der Tafel herstellen. Die wimmelnden Gleichungen breiten sich über Tische, Bänke und jede Oberfläche aus, die sich beschreiben lässt. Die Mathematik ist für Vishram so unverständlich wie Sanskrit, aber der Kokon aus Gedanken, Theorien und Visionen beruhigt ihn, als wäre er von einem Gebet umschlossen.
»Es macht vielleicht keinen besonderen Eindruck, aber das Forschungsteam von EnGen würde eine Menge Geld bezahlen, um sich hier umschauen zu dürfen«, sagt Sonia Yadav. »Die heißen Sachen machen wir hauptsächlich drüben am Teilchenbeschleuniger der Universität oder am LHC in Europa, aber hier wird die eigentliche Arbeit getan. Die Kopfarbeit.«
»Heiße Sachen?«
»Wir verfolgen zwei verschiedene Ansätze, einen heißen und einen kalten, wie wir es nennen. Ich möchte Sie nicht mit der Theorie langweilen, aber es hat etwas mit Energielevels und Quantenschaum zu tun. Zwei Ansätze, das Nichts zu betrachten.«
»Und Sie sind heiß?«, fragt Vishram, während er die hieratischen Glyphen an der Wand mustert.