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Marianna Fusco hatte ihren Palmer bereits aufgeklappt. »Seine Jahresberichte sind im Handelsregister archiviert, aber seine Gewinne haben sich in fünf aufeinanderfolgenden Quartalen reduziert, und seine Banken werden allmählich nervös. Ich würde sagen, er wird irgendwann in den nächsten Jahren einen vorsorglichen Insolvenzantrag stellen.«

»Wenn es also nicht Govinds Geld ist, musst du dich wohl selber fragen, woher es kommen könnte.«

Ramesh schiebt den Teller mit Kitchiri von sich weg. »Könntest du meinen Anteil kaufen?«

»Govind hat zumindest eine Firma und Kreditwürdigkeit. Ich habe ein Notizbuch mit Witzen und einen Haufen ungeöffneter Briefumschläge mit kleinen Zellophanfenstern.«

»Was können wir machen?«

»Wir werden das Unternehmen führen. Es ist ein starkes Unternehmen. Es ist Ray Power, wir sind damit aufgewachsen, wir kennen es, wie wir dieses Haus kennen. Aber ich werde dir eins sagen, Ram: Ich werde nicht zulassen, dass du mir die Schuld an dem gibst, was geschieht. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich muss mich um meine Angestellten kümmern.«

Marianna Fusco erhob sich mit ihm und nickte Ramesh zu, als sie in die Kühle und Dunkelheit des Hauses traten. Affen sprangen kreischend von den Bäumen, um sich die Reste des Kitchiri zu holen.

Vishram witterte Govind, bevor er sein Abbild im Frisierspiegel sah.

»Weißt du, ich hätte dir Unmengen von anständigem Aftershave aus dem Dutyfree in London mitbringen können. Und du benutzt immer noch dieses Arpal-Zeugs? Hat es irgendwas mit patriotischer Gesinnung zu tun, den Nationalgeruch von Bharat zu verwenden?«

Govind schob sich ins Spiegelbild neben Vishram, während dieser seine Manschetten zurechtzupfte. Guter Anzug. Ich sehe viel besser aus als du, mein Dickerchen.

»Und seit wann spazieren wir einfach herein, ohne anzuklopfen?«, fügte Vishram hinzu.

»Seit wann muss Familie anklopfen?«

»Seit wir alle zu großen Geschäftsleuten geworden sind. Ach übrigens: Ich werde heute Nacht nicht im Haus schlafen. Ich ziehe in ein Hotel um.« Manschetten korrekt. Aufschläge korrekt. Kragen korrekt. Gott segne die chinesischen Schneider. »Und? Wie lautet dein Angebot?«

»Also hat Ramesh schon mit dir gesprochen.«

»Hast du wirklich geglaubt, er würde es nicht tun? Wie ich höre, hast du ein Liquiditätsproblem.«

Unaufgefordert setzte sich Govind auf die Bettkante. Im Spiegel bemerkte Vishram, dass die Füße seines Bruders nicht ganz bis zum Boden reichten.

»Auch wenn es für dich vielleicht schwer zu glauben ist, aber ich versuche nur, die Firma zusammenzuhalten.«

»Du hast recht.«

Vishram hatte ihm immer noch den Rücken zugewandt.

»EnGen hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass man an Ray interessiert ist. Selbst als unser Vater noch Geschäftsführer war, hat man Angebote gemacht. Früher oder später werden sie uns kriegen. Wir haben keine Chance gegen die Amerikaner. Am Ende werden sie uns schlucken, und was wir jetzt zwischen uns entscheiden müssen, ist die Frage, ob sie uns einen nach dem anderen erwischen oder uns mit einem großen Happen übernehmen. Ich weiß, was ich vorziehen würde. Ich weiß, was besser für die Firma ist, die unser Vater aufgebaut hat. Einheit bedeutet Stärke.«

»Unser Vater hat ein indisches Unternehmen auf die indische Weise aufgebaut.«

»Mein Bruder, das soziale Gewissen?« Durch diese fünf Worte wurde Vishram klar, dass er und sein Bruder auf ewig Feinde sein würden. Rama und Ravanna. »Diese alten Frauen und Grameen-Banker werden die Ersten sein, die dir zusetzen, wenn die Angebote hereinkommen«, fuhr Govind fort. »Sie reden schön und edel, aber biete ihnen einen Stapel Dollars an, und du wirst sehen, wie es um die Solidarität der Armen bestellt ist. Sie kennen sich besser mit Geschäften aus als du, Vishram.«

»Ich glaube nicht«, sagte Vishram leise.

Sein Bruder runzelte die Stirn. »Wie bitte? Ich habe dich nicht verstanden.«

»Ich sagte, ich glaube nicht. Es ist sogar so, dass du jetzt sagen kannst, was du willst, und ich werde grundsätzlich dagegen sein. So wird es von nun an ablaufen. Ganz gleich, was du tust, was du sagst, welches Angebot du machst oder welchen Deal du vereinbarst, ich werde dagegen sein. Du könntest recht oder unrecht haben, ich könnte damit vielleicht eine Milliarde Dollar verdienen, aber ich werde trotzdem dagegen sein. Weil ich jetzt dazu in der Lage bin und du nichts mehr machen kannst. Weil du nicht mehr zu irgendwem rennen oder die Befehlsgewalt des älteren Bruders ausspielen kannst. Weil mir immer noch ein Drittel von Ray Power gehören wird. Jetzt bist du in meinem Schlafzimmer, und du hast nicht angeklopft, und ich habe dich auf keinen Fall hereingebeten, aber ich werde darüber hinwegsehen, weil dies die letzte Nacht war, die ich in diesem Zimmer, in diesem Haus verbracht habe, und weil ich jetzt zu arbeiten habe.«

Erst als er sich auf das kühle Leder des Wagens niederließ, bemerkte Vishram die kleinen blutigen Halbmonde in seinen Handflächen, die Stigmata verkrampfter Fingernägel.

Es ist ein schrecklicher Italiener, aber es ist der einzige Italiener. Vishram hat schon jetzt Heimweh nach der Küche des mächtigen Volkes der Glasgower Italiener bekommen und sich von der Aussicht auf Pasta und Ruffino den Tag versüßen lassen, bevor er sich daran erinnerte, dass es in Varanasi keine verwurzelte italienische Community gibt, dass die Bevölkerung nichts Italienisches in den Genen hat. Das Personal ist ausschließlich einheimisch. Die Musik ist aus den Charts kompiliert. Der Wein ist zu warm und von der langen Dürre ermüdet. Auf der Speisekarte steht etwas, das Tikka-Pasta heißt.

»Tut mir leid, dass es ein so schreckliches Restaurant ist«, entschuldigt er sich bei Sonia Yadav.

Sie müht sich mit ihren zerkochten Spaghetti ab. »Ich habe noch nie Italienisch gegessen.«

»Das tun Sie auch jetzt nicht.«

Sie hat sich große Mühe für dieses Abendessen gegeben. Sie hat etwas mit ihrem Haar gemacht und sich mit etwas Gold und Bernstein behängt. Arpège 27, vermutlich aus irgendeinem europäischen Dutyfree. Es gefällt ihm, dass sie einen Geschäftssari trägt und keinen hässlichen Anzug im westlichen Stil. Vishram lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und legt die Fingerspitzen zusammen, bis ihm bewusst wird, dass er zu sehr wie ein James-Bond-Schurke aussieht, und sich wieder entspannt.

»Was glauben Sie, realistisch betrachtet, wie viel ein Geisteswissenschaftler von Nullpunktenergie verstehen wird?«

Sonia Yadav schiebt mit offenkundiger Erleichterung ihren Teller von sich. »Also gut, fangen wir damit an, dass es streng genommen gar keine Nullpunktenergie ist, wie die meisten Leute es sich vorstellen.« Sonia Yadav hat kleine Falten zwischen den Augen, wenn sie über ein schwieriges Thema spricht oder nachdenkt. Es sieht irgendwie niedlich aus. »Erinnern Sie sich, was ich im Labor über Kalt und Heiß gesagt habe? Die klassischen Nullpunkttheorien sind kalte Theorien. Unsere Theorien deuten jedoch darauf hin, dass sie nicht funktionieren. Dass sie nicht funktionieren können, weil der Grundzustand eine Mauer ist, die man einfach nicht durchbrechen kann. Es ist unmöglich, das zweite Gesetz der Thermodynamik zu verletzen.«

Vishram nimmt eine Brotstange und zerbricht sie theatralisch in zwei Hälften.

»Das mit Heiß und Kalt habe ich verstanden ...«

»Gut. Ich werde es versuchen. Übrigens habe ich diese Szene mit der Brotstange im Remake von Pyar Diwana Hota Hai gesehen.«

»Also noch etwas Wein?«

Sie lässt nachfüllen, rührt das Glas aber nicht an. Eine weise Frau. Vishram lehnt sich mit dem traumatisierten Chianti zurück — das uralte Ritual eines Mannes, der einer Frau beim Erzählen einer Geschichte zuhört.

Es ist eine seltsame und magische Geschichte voller Widersprüche und Unmöglichkeiten, ähnlich wie die Legenden aus dem Mahabharata. Es geht um multiple Welten und Entitäten, die gleichzeitig gegensätzliche Eigenschaften besitzen. Es geht um Wesenheiten, die sich niemals vollständig erkennen oder vorhersagen lassen, die nach der Trennung miteinander verknüpft bleiben, selbst wenn man sie an entgegengesetzte Enden des Universums versetzt, so dass die eine ohne Zeitverzögerung spürt, was mit der anderen geschieht. Vishram beobachtet Sonias Demonstration des Doppelspaltexperiments mit einer Gabel, zwei Kapern und Wellen im Tischtuch und staunt, in was für einer seltsamen und fremdartigen Welt diese Frau lebt. Das Quantenuniversum ist so unberechenbar und unbestimmbar wie die dreifache Welt, die auf dem Rücken der großen Schildkröte ruht und von Göttern und Dämonen beherrscht wird.