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»Wegen des Unschärfeprinzips kommt es ständig vor, dass virtuelle Teilchenpaare auf allen möglichen Energielevels geboren werden und wieder vergehen. Also enthält jeder Kubikzentimeter des leeren Raums theoretisch eine unendlich große Energiemenge. Das Problem ist nur, die virtuellen Teilchen daran zu hindern, wieder zu verschwinden.«

»Ich muss Ihnen gestehen, dass dieser Geisteswissenschaftler kein einziges Wort versteht.«

»Niemand versteht es wirklich. Zumindest nicht so, wie wir ›verstehen‹ verstehen. Wir haben lediglich eine Beschreibung, wie es funktioniert, und es funktioniert besser als jede andere Theorie, die wir jemals entwickelt haben, und zwar einschließlich der M-Stern-Theorie. Es ist wie mit dem Geist Brahmas. Niemand kann die Gedanken eines Schöpfergottes verstehen, aber das bedeutet nicht, dass es keine Schöpfung gibt.«

»Für eine Wissenschaftlerin benutzen Sie ungewöhnlich viele religiöse Metaphern.«

»Diese Wissenschaftlerin glaubt, dass wir in einem hinduistischen Universum leben«, bekräftigt Sonia Yadav. »Aber verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin nicht wie diese christlich-fundamentalistischen Kreationisten. Das ist keine Wissenschaft, weil sie den Empirismus und die Tatsache leugnet, dass sich das Universum mit dem Verstand erfassen lässt. Kreationisten passen die empirischen Beweise an, damit sie ihrer speziellen Interpretion der Schriften entsprechen. Ich glaube das, was ich glaube, weil ich es empirisch beweisen kann. Ich bin eine rationale Hindu. Ich sage nicht, dass ich an tatsächliche Götter glaube, aber die Quanteninformatik und die M-Stern-Theorie gehen davon aus, dass alles miteinander verbunden ist und dass Eigenschaften entstehen können, die sich nicht anhand der konstituierenden Elemente vorhersagen lassen, und dass die sehr großen und die sehr kleinen Dinge nur zwei Seiten desselben Superstrings sind. Muss ich einem Ray etwas über hinduistische Philosophie erzählen?«

»Diesem Ray vielleicht. Also werden Sie N. K. Jivanjee nicht auf seiner Yatha Ratra durch die Gegend ziehen.« Er hat die Fotos in den Abendnachrichten gesehen. Ein echter Knüller.

»Ich werde nicht ziehen, aber vielleicht bin ich unter den Zuschauern. Außerdem ist das Ding sowieso mit einem Ökodiesel ausgestattet.«

Vishram lehnt sich wieder zurück und zupft an seiner Unterlippe, wie er es immer tut, wenn in seinem Kopf Beobachtungen und Formulierungen herumflattern und sich krächzend zu einer Comedynummer verbinden.

»Dann klären Sie mich auf. Sie haben kein Bindi, und Sie gehen ohne Gouvernante aus. Wie passt das alles zu N. K. Jinvanjee und dem Geist Brahmas?«

Sonia Yadav hat wieder diese kleinen Falten. »Ich werde es einfach und geradeheraus sagen. Jati und Varna haben unsere Nation dreitausend Jahre lang umnachtet. Die Kaste war nie eine drawidische Idee — das waren diese Arier mit ihrer Obsession des Teilens und Herrschens. Deshalb haben die Briten dieses Land so geliebt — sie sind immer noch von allem fasziniert, was mit Indien zu tun hat. Die Klassentrennung ist Teil ihres nationalen Narrativs.«

»Nicht in dem Großbritannien, das ich erlebt habe«, bemerkt Vishram.

»Für mich geht es bei N. K. Jivanjee um Nationalstolz, um Bharat für Bharat, das nicht kiloweise an die Amerikaner verkauft werden darf. Es geht um die hinduistische Nullpunktenergie. Und im einundzwanzigsten Jahrhundert braucht eine Frau keine Anstandsdame mehr, und mein Ehemann vertraut mir.«

»Aha«, sagt Vishram und hofft, dass seine Geknicktheit nicht zu offensichlich ist. »Und die M-Stern-Theorie?«

Soweit er es versteht, ist es folgendermaßen. Zuerst gab es die Stringtheorie, von der Vishram gehört hat. Sie hat etwas damit zu tun, dass sich alles auf Töne von vibrierenden Strings zurückführen lässt. Sehr schön. Sehr musikalisch. Sehr hinduistisch. Dann kam die M-Theorie, die versuchte, die Widersprüche der Stringtheorie aufzulösen, die sich jedoch in unterschiedliche Richtungen entwickeln ließ, wie die Arme eines Seesterns. Schließlich bildete sich in den späten Zwanzigern ein theoretisches Zentrum heraus, und zwar in Form der M-Stern-Theorie ...

»Der Stern leuchtet mir ein, aber wofür steht das M?«

»Das ist ein Mysterium«, sagt Sonia lächelnd.

Jetzt sind sie beim Strega angelangt. Der Likör hat sich im Klima gut gehalten.

In der M-Stern-Theorie erschaffen die Verschlingungen und Faltungen der ursprünglichen Strings in elf Dimensionen und in Membranform das Polyversum aller möglichen Universen, mitsamt allen fundamentalen Eigenschaften, die von denen abweichen, die den Menschen bekannt sind.

»Alles ist irgendwo vorhanden«, sagt Sonia Yadav. »Universen mit einer weiteren Zeitdimension, zweidimensionale Universen, in denen es übrigens keine Gravitation geben kann. Universen, in denen die Selbstorganisation und das Leben grundlegende Eigenschaften der Raumzeit sind ... eine unendliche Anzahl von Universen. Und das ist der Unterschied zwischen der kalten und heißen Nullpunkttheorie.«

Vishram bestellt zwei weitere Stregas. Er weiß nicht genau, ob es an der spirituellen Physik oder den physischen Spirituosen liegt, aber sein Gehirn hat den wohligen Quantenzustand erhöhter Unbestimmtheit angenommen.

»Was der kalten Nullpunkttheorie einen Riegel vorschiebt, ist das zweite Gesetz der Thermodynamik.« Der Kellner serviert die zweite Runde. Vishram betrachtet Sonia Yadav durch die goldene Flüssigkeit im kleinen blasenförmigen Glas. »Hören Sie auf damit! Hören Sie mir zu! Damit sie genutzt werden kann, muss sich die Energie verlagern. Sie muss von einem höheren Zustand zu einem niedrigeren fließen, von Heiß zu Kalt, könnte man sagen. Aber in unserem Universum ist der Nullpunkt, die Quantenfluktuation, der Grundzustand. Die Energie kann nirgendwohin abfließen, von dort geht es nur bergauf. Aber in einem anderen Universum ...«

»Dort könnte der Grundzustand, oder wie auch immer Sie ihn nennen wollen, höher ...«

Sonia Yadav verschränkt die Hände zu einem stummen Namaste. »Genau! Das ist es! Dann würde sie auf ganz natürliche Weise von oben nach unten fließen. Wir könnten diese unendliche Energie anzapfen.«

»Zuerst müsste man dieses Universum finden.«

»Oh, wir haben es schon vor langer Zeit gefunden. Es ist eine simple Mannigfaltigkeit der Struktur unseres eigenen Universums, die von der M-Stern-Theorie vorhergesagt wird. Dort ist die Gravitation viel stärker. Also ist die Expansion konstant, und deshalb ist in der gestauchten Raumzeit viel mehr Vakuumenergie gebunden. Es ist ein recht kleines Universum und gar nicht so weit entfernt.«

»Ich dachte, Sie hätten gesagt, andere Universen liegen gleichzeitig innerhalb und außerhalb unseres Universums.«

»Topologisch gesehen stimmt das. Aber ich spreche hier von energiemäßiger Entfernung, wie sehr wir unsere Branen verbiegen müssen, um sie der Geometrie dieses Universums anzupassen. In der Physik ist letztlich alles nur Energie.«

Verbogene Gehirnwindungen, alles klar.

Sonia Yadav stellt ihr leeres Glas entschieden auf das Gingham-Tischtuch und beugt sich vor. Vishram kann der physischen Energie in ihren Augen, ihrem Gesicht, ihrem Körper nicht widerstehen.