Im Schlund des Asteroiden verschränkt Lisa Durnau die Arme vor der Brust, zieht die Beine an und macht einen Purzelbaum. Während sie sich am Seil nach unten hangelt, spürt sie ein klein wenig, dass etwas an ihren Füßen zerrt. Jetzt hat sie ein deutliches Gefühl von oben und unten, und ihr Magen gluckert, als er sich wieder in der natürlichen Richtung orientiert. Sie blickt zwischen ihren Füßen hindurch. Sam Raineys Kopf füllt den Schacht aus, umgeben von einem Halo. Da unten ist Licht.
Ein paar hundert Knoten schachtabwärts, und sie kann sich abstoßen und in Hundert-Meter-Sprüngen dahinschweben. Lisa jauchzt. Sie findet die Mikrogravitation viel aufregender und befreiender als den aufgedunsenen, übelkeitserregenden freien Fall.
»Vergessen Sie nicht, dass Sie wieder nach oben müssen«, sagt Sam.
Weitere fünf Minuten später und weiter unten ist das Licht ein heller, silberner Schein. Lisas Körper schätzt die Schwerkraft auf die Hälfte ein, und sie wird von Meter zu Meter stärker. Ihr Geist rebelliert empört über die Vorstellung, im absoluten Vakuum Gewicht zu haben. Plötzlich verschwindet Sams Kopf. Sie drückt die Finger und Zehen gegen die Wand und blinzelt durch ihre Füße auf eine Scheibe aus silbrigem Licht. Sie glaubt, ein Spinnennetz aus Seilen und Kabeln zu sehen.
»Sam?«
»Klettern Sie nach unten, bis Sie eine Strickleiter sehen. Halten Sie sich gut daran fest. Dann werden Sie mich sehen.«
Mit den Füßen voran und in einem viel zu engen Spermienanzug dringt Lisa Durnau in die Zentralhöhle von Darnley 285 ein. Unter ihr breitet sich das Netz aus Kabeln und Webleinen aus, das rund um das Dach der Höhle aufgespannt ist. Lisa setzt einen Fuß vor den anderen und arbeitet sich wie eine Seiltänzerin bis zu Sam Rainey vor, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Netz liegt.
»Schauen Sie nicht hinunter«, warnt Sam sie. »Noch nicht. Kommen Sie hier herüber und legen Sie sich neben mich.«
Lisa Durnau lässt sich bäuchlings auf eine Schlinge nieder und blickt hinunter ins Herz des Tabernakels.
Das Objekt ist eine perfekte Kugel aus Silbergrau. Es hat die Größe eines kleinen Hauses und hängt genau im Schwerkraftzentrum des Asteroiden zwanzig Meter unter Lisas Visier. Es strahlt ein stetiges, mattes, metallisches Licht aus. Während sich ihre Augen an den Chromschimmer gewöhnen, werden ihr Variationen bewusst, ein wogendes Chiaroscuro auf der Oberfläche. Der Effekt ist subtil, aber nachdem sie darauf aufmerksam wurde, erkennt sie Wellenmuster, die aufeinandertreffen, miteinander verschmelzen und neue Beugungsmuster erzeugen, grau in grau.
»Was passiert, wenn ich etwas darauf fallen lasse?«, fragt Lisa Durnau.
»Diese Frage stellt jeder«, sagt Sam Rainey in ihrem Ohr.
»Und? Was passiert?«
»Probieren Sie es selber aus.«
Das einzige Objekt, das Lisa gefahrlos entfernen kann, ist eins ihrer Namensschilder. Sie löst es vom Klettband am Brustteil ihres Anzugs und lässt es durch das Netz fallen. Sie hat sich vorgestellt, dass es im Flug flattert. Aber es fällt gerade und ungehindert durch das Vakuum innerhalb von Darnley 285. Das Schild ist kurz eine Silhouette vor dem Licht, dann verschwindet es im grauen Schimmer wie eine ins Wasser geworfene Münze. Wellen rasen über die Oberfläche und brechen sich an flüchtigen Strudeln und Spiralen. Es ist schneller gefallen, als es fallen sollte, denkt sie. Und sie hat bemerkt, dass es nicht hindurchgegangen ist. Als es auf die Oberfläche traf, wurde es annihiliert. Aufgelöst.
»Die Gravitation wird nach unten immer stärker«, stellt sie fest.
»An der Oberfläche beträgt sie etwa fünfzig g. Es ist wie ein schwarzes Loch. Nur dass ...«
»... es nicht schwarz ist. Also ... dumme, offensichtliche Frage ... was ist es?«
Sie hört über die Anzugverbindung, wie Sam den Atem durch die Zähne einsaugt.
»Na ja, es gibt EM-Strahlung im sichtbaren Spektrum ab, aber das ist die einzige Information, die wir von dem Ding erhalten. Alle Scans aus der Ferne, die wir ausprobieren, ergeben rein gar nichts. Abgesehen von diesem Licht ist es in jeder anderen Hinsicht ein schwarzes Loch. Ein leichtes schwarzes Loch.«
Nur dass es das nicht ist, begreift Lisa Durnau. Es macht mit eurem Radar und euren Röntgenstrahlen dasselbe wie mit meinem Namen. Es nimmt sie auseinander und annihiliert sie. Aber wozu, in was? Dann wird ihr ein kleines, wunderschönes Übelkeitsgefühl im Bauch bewusst. Es ist nicht die Umarmung der Gravitation oder der Wurm der Klaustrophobie oder die intellektuelle Furcht vor dem Fremden und Unbekannten. Es ist das Gefühl, an das sie sich aus der Toilettenkabine in Paddington Station erinnert: die Empfängnis einer Idee. Die morgendliche Übelkeit einer originellen Überlegung.
»Kann ich es mir aus größerer Nähe ansehen?«, fragt Lisa Durnau.
Sam Rainey rollt über das Netzgeflecht zu den Technikern, die in einem wackligen Nest aus alten Pilotensitzen und Sicherheitsgurten rund um ramponierte Instrumente kauern. Eine Gestalt mit den Schultern einer Frau und dem Namen Daen auf einer androgynen Brust überreicht dem Leiter einen Bildverstärker. Sam zieht ihn über Lisa Durnaus Helm und zeigt ihr, wie sie die knifflige Steuerung bedienen muss. Lisas Gehirn reagiert mit Schwindel, während sie mehrmals ran- und wegzoomt. Hier gibt es nichts, worauf man den Blick fokussieren könnte. Dann schwimmt es in ihr Sichtfeld. Die Haut des Tabernakels wimmelt von Aktivitäten. Lisa erinnert sich an Unterrichtsstunden in der Grundschule, als die Kinder eine Videokamera auf Teichwasser richteten und plötzlich überall Mikrotiere waren. Sie wandert die Skala hinauf, bis sich die zitternde Brown’sche Bewegung in Muster und Aktion auflöst. Das Silber ist das Zeitungspapiergrau von Atomen in Schwarz und Weiß, die kontinuierlich ihren Zustand ändern. Die Oberfläche des Tabernakels ist ein brodelndes Gewimmel fraktaler Bewegungen, von langsamen Wellenzügen bis zu flüchtigen Formationen, die übereinanderwuseln und sich gegenseitig auslöschen, um größere Strukturen zu bilden, die wie die Spuren in einer Blasenkammer in exotische und unvorhersagbare Fragmente zerfallen.
Lisa Durnau dreht die Feineinstellung hoch, bis die Anzeige bei X 1000 steht. Das körnige Gewimmel expandiert zu einem Flimmern in Schwarz und Weiß, ein hektisches Flackern, das hundertmal pro Sekunde neue Muster erzeugt. Die Auflösung ist denkbar unscharf, aber Lisa weiß, was sie ganz unten finden würde, wenn sie so weit hinunterkommen würde: ein Gitter aus einfachen schwarzen und weißen Quadraten, die von einem Zustand in den anderen wechseln.
»Zellulare Automaten«, flüstert Lisa Durnau, während sie über den fraktalen Wirbeln aus Mustern und Wellen und Dämonen hängt, wie Michelango kopfüber in der Sistina. Leben, wie Thomas Lull sofort erkannt hätte.
Lisa Durnau hat den größten Teil ihres Lebens in der flackernden schwarz-weißen Welt von zellularen Automaten verbracht. Ihr Großvater Mac — eine genetische Mischung aus schottisch-irischen Gegensätzen — war der Erste gewesen, der sie auf die Komplexitäten in den simplen Mustern der Spielsteine auf einem Othello-Brett aufmerksam machte. Ein paar grundlegende Regeln für den Wechsel der Farbe, basierend auf der Anzahl der angrenzenden schwarzen und weißen Steine, und man konnte barocke, filigrane Muster erwecken, die über das Brett wucherten.