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Online entdeckte sie ganze Bestiarien aus schwarz-weißen Formen, die über ihren Flachbildschirm krochen, schwammen, schossen oder schwärmten, eine gespenstische Mimikry lebender Wesen. Ein Stockwerk tiefer in seinem Arbeitszimmer mit den theologischen Werken an den Wänden entwarf Pastor David G. Durnau Predigten, in denen er nachwies, dass die Erde achttausend Jahre alt war und der Grand Canyon von den Wassern der Sintflut geschaffen wurde.

In ihrem letzten Jahr an der Highschool, als ihre Freundinnen sie zugunsten von Abercrombie, Fitch und Skaterboyz im Stich ließen, versteckte sie ihre soziale Unbeholfenheit hinter den glitzernden Wänden von dreidimensionalen zellularen Automaten. Ihr Jahresabschlussprojekt, bei dem es um den Bezug der zierlichen Formen auf ihrem Computer mit den barocken Glasschalen von mikroskopischen Diatomeen ging, hatte sogar ihren Mathelehrer verblüfft. So konnte sie letztlich genau das studieren, was sie wollte. Also war sie ein Nerd. Aber sie konnte sehr schnell laufen.

In ihrem zweiten Jahr rannte sie zehn Kilometer pro Tag und stieß unter die schillernde Oberfläche ihrer schwarzweißen virtuellen Welt zur funkigen Bassline der Regeln vor. Einfache Programme, aus denen sich komplexes Verhalten entwickelt, waren der Kern der Wolfram-Friedkin-Vermutung. Sie hatte keinen Zweifel, dass das Universum mit sich selbst kommunizierte, aber sie musste herausfinden, was sich in der Struktur der Raumzeit und Energie verbarg, das den Kontrapunkt anregte. Sie wollte lauschen, wenn Gott stille Post spielte. Die Suche warf sie vom Schachbrett des Künstlichen Lebens in luftige, von Drachen heimgesuchte Regionen: Kosmologie, Topologie, M-Theorie und ihr Erbe, die M-Stern-Theorie. In jeder Hand hielt sie gedankliche Universen, führte sie zusammen und beobachtete, wie sie sich beugten und brannten.

Leben. Das Spiel.

»Wir haben ein paar Theorien«, sagt Sam Rainey. Nach sechsunddreißig Stunden im Drogenschlaf ist Lisa Durnau wieder in der ISS. Sie, Sam und die Agentin Daley bilden ein geordnetes, höfliches Kleeblatt in Null-G, eine unbewusste Reprise des stählernen Symbols, das den Weg zum Herzen von Darnley 285 weist. »Erinnern Sie sich daran, was passierte, als Sie Ihr Namensschild fallen ließen.«

»Es ist ein perfektes Aufzeichnungsmedium«, sagt Lisa. »Alles, womit es physikalisch interagiert, wird zu reiner Information digitalisiert.« Ihr Name ist nun ein Teil der Struktur. Sie ist sich nicht sicher, was sie davon halten soll. »Also nimmt es Dinge auf. Aber hat es jemals etwas von sich gegeben? Irgendeine Art von Transmission oder Signal?«

Sie fängt eine Transmission oder ein Signal zwischen Sam und Daley auf.

»Darüber werde ich gleich sprechen«, sagt Daley, »aber zuerst wird Sam Ihnen die historische Perspektive erläutern.«

»Sie spricht von der historischen Perspektive«, sagt Sam, »aber in Wirklichkeit ist sie archäologisch. Im Grunde trifft nicht einmal das zu, weil es viel zu nahe wäre. Es geht vielmehr um die kosmologische Perspektive. Wir haben Isotopenanalysen durchgeführt.«

»Ich kenne mich ein bisschen mit Paläontologie aus. Sie werden mich nicht mit Wissenschaft blenden.«

»Laut unserer Tabelle der Zerfallsprodukte von 238U ergibt sich ein Alter von sieben Milliarden Jahren.«

Als Kind eines Geistlichen neigt Lisa Durnau nicht dazu, den Namen des Herrn zu missbrauchen, aber jetzt entfährt ihr ein simples, ehrfürchtiges »Großer Gott!« Die Äonen von Alterre, die wie ein Abend vergehen, haben ihr ein Gefühl für Tiefenzeit gegeben. Doch der Zerfall radioaktiver Isotope reicht in die tiefste Zeit überhaupt, in einen Abgrund der Vergangenheit und Zukunft. Darnley 285 ist älter als das Sonnensystem. Plötzlich wird sich Lisa Durnau sehr der Tatsache bewusst, dass sie nicht mehr als ein Klumpen aus Knorpel und Nerven ist, der in einer Kaffeekanne mitten im Nichts durchgeschüttelt wird.

»War es das«, sagt Lisa Durnau vorsichtig, »was Sie mir unbedingt vorher mitteilen wollten?«

Daley Suarez-Martin und Sam Rainey blicken sich an, und Lisa Durnau wird klar, dass sie die Leute sind, auf die sich ihr Land verlassen muss, wenn es um die erste Begegnung mit etwas Außerirdischem geht. Keine Superhelden, keine Superwissenschaftler, keine Supermanager. Sie haben überhaupt nichts Supermäßiges. Alltagswissenschaftler und Beamte. Sie arbeiten sich voran und machen mit dem weiter, was sie vorfinden. Die ultimative menschliche Ressource: die Fähigkeit zur Improvisation.

»Wir haben mehr oder weniger seit Tag eins Videoaufnahmen von der Oberfläche des Tabernakels gemacht«, sagt Sam Rainey. »Wir haben eine Weile gebraucht, bis wir erkannten, dass wir die Kamera mit fünfzehntausend Bildern pro Sekunde laufen lassen müssen, um die Muster isolieren zu können. Wir haben sie analysieren lassen.«

»Um den Regeln auf die Spur zu kommen, die diesen Automaten antreiben.«

»Ich glaube, ich verrate kein Staatsgeheimnis, wenn ich sage, dass wir in unserem Land nicht die nötigen Kapazitäten dafür haben.«

Unser Land, denkt Lisa Durnau, während sie sich im Orbit um den stabilen L-5-Punkt befindet. Eingeschränkt durch euer eigenes Hamilton-Gesetz. Sie sagt: »Sie brauchen eine Mustererkennungs-Kaih höherer Stufe. 2,8 oder vielleicht noch höher.«

»Wir haben einige Entschlüsselungs- und Mustererkennungsspezialisten zur Verfügung«, sagt Daley Suarez-Martin. »Bedauerlicherweise leben sie in nicht besonders stabilen politischen Regionen.«

»Also brauchen Sie mich gar nicht, um den Rosetta-Stein zu finden. Wofür dann?«

»Hin und wieder haben wir unanfechtbare, erkennbare Muster empfangen.«

»Wie oft?«

»Dreimal. Auf drei aufeinanderfolgenden Einzelbildern. Am dritten Juli dieses Jahres. Das hier ist das erste.«

Daley lässt ein großes Hochglanzfoto im Dreißig-mal-zwanzig-Format durch die Luft zu Lisa Durnau schweben. Im Grau in Grau zeichnet sich das Gesicht einer Frau ab. Die Auflösung des zellularen Automaten ist hoch genug, um den etwas verwunderten Gesichtsausdruck abzubilden, den leicht geöffneten Mund, selbst eine Andeutung der Zähne. Sie ist jung, hübsch, von unbestimmbarer Rasse, und die huschenden weißen und schwarzen Punkte, die in der Zeit gefroren sind, haben ein ermüdetes Stirnrunzeln eingefangen.

»Wissen Sie, wer sie ist?«, fragt sie.

»Wie Sie sich vorstellen können, war diese Frage von höchster Priorität«, sagt Daley. »Wir haben überall angefragt, FBI, CIA, Finanzamt, Sozialversicherung und Reisepassdatenbanken. Kein Treffer.«

»Sie muss keine Amerikanerin sein«, sagt Lisa Durnau.

Das scheint Daley aufrichtig zu überraschen. Sie zieht das nächste Foto hervor und schiebt es Lisa zu, mit der Bildseite nach unten. Lisa dreht das Blatt um und greift unwillkürlich nach etwas, das nicht fällt, an dem sie sich festhalten kann. Aber hier fällt alles gleichzeitig, schon die ganze Zeit.

Er trägt eine andere Brille und hat den Bart zu einem Kranz aus Stoppeln gestutzt. Er hat sich das Haar wachsen lassen und eine Menge Gewicht verloren, aber die kleinen grauen Zellen haben den süffisanten, verunsicherten Blick bewahrt, der »Weg mit der blöden Kamera!« zu sagen scheint. Thomas Lull.

»Gütiger Gott«, haucht sie.

»Bevor Sie irgendetwas sagen, schauen Sie sich bitte diese letzte Aufnahme an.«

Daley Suarez-Martin lässt das letzte Foto schweben, vom Raum gerahmt.

Sie. Es ist ihr Gesicht, in Silber gezeichnet, aber deutlich genug, um das Muttermal auf der Wange zu erkennen, die Lachfältchen um die Augen, den kürzeren, sportlicheren Haarschnitt, den Ausdruck des geöffneten Mundes, der aufgerissenen Augen und der angespannten Gesichtsmuskeln, den sie nicht genau bestimmen kann. Furcht? Wut? Entsetzen? Ekstase? Es ist unmöglich und unglaublich und verrückt. Es ist verrückter als verrückt, aber sie ist es. Lisa Leonie Durnau.