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Westliches Denken rebelliert gegen solche Vorstellungen. Westliches Denken ist Autodenken. Bewegungsfreiheit. Selbststeuernd. Individuelle Auswahl und Selbstdarstellung und Sex auf den Rücksitzen. Die große Auto-Gesellschaft. In der Literatur und Musik waren Züge schon immer Maschinen des Schicksals, die das Individuum blind und unausweichlich in den Tod führen. Züge fuhren durch das Tor von Auschwitz, bis zu den Duschbaracken. Indien hat ein anderes Verständnis von Eisenbahnen. Es geht nicht darum, wohin die unsichtbare Lok einen bringt, sondern um das, was man durch das Fenster sieht, was man zu seinen Mitreisenden sagt, weil alle zusammen fahren. Der Tod ist ein riesiger, überfüllter Endbahnhof mit kaum verständlichen Ansagen und Anschlussverbindungen für neue Reisen. Zugwechsel.

Der Zug von Thiruvananthapuram bewegt sich durch ein weites Netz aus Gleisen in den großen Bahnhof. Schlanke Shatabdis schlängeln sich über die Weichen zu den Hochgeschwindigkeitsstrecken. Lange Pendlerzüge rollen heulend vorbei, mit Passagieren geschmückt, die an den Türen hängen, auf den Trittbrettern stehen, sich auf dem Dach drängen, die Arme durch die vergitterten Fenster geschoben, Gefangene der Weltlichkeit.

Mumbai. Die Stadt hat Thomas Lull schon immer angewidert. Zwanzig Millionen Menschen leben auf diesem ehemaligen Archipel aus sieben duftenden Inseln. Es herrscht abendlicher Hochbetrieb. Die Innenstadt von Mumbai ist das größte Einzelgebäude der Welt — Einkaufszentren und Wohnanlagen und Büros und Freizeiteinrichtungen, die zu einem vielarmigen und vielköpfigen Dämon miteinander verschmolzen sind. Im Herzen des Ganzen nistet der Chhattrapati Shivaji Terminus, ein Bezoar der viktorianischen Übersteigerung und Arroganz, nun vollständig überkuppelt mit Einkaufsvierteln und Geschäftsniederlassungen, wie eine Kröte, die von einer Kalksteinknolle umschlossen wird. In Chhattrapati Shivaji ist es nie auch nur einen Augenblick lang ruhig oder still. Es ist eine Stadt in der Stadt. Gewisse Kasten prahlen damit, einzig und allein hier vertreten zu sein, Familien behaupten, seit Generationen zwischen den Bahnsteigen und Gleisen und roten Ziegelpfeilern gelebt zu haben, die niemals das Tageslicht sehen. Fünfhundert Millionen Pilgerfüße schreiten jedes Jahr über den Raj-Marmor, umsorgt von unzähligen Trägern, Verkäufern, Gaunern, Versicherungsvertretern und Janampatri-Lesern.

Lull und Kij treten zwischen die Familien und Gepäckstücke auf den Bahnsteig. Der Lärm klingt wie ein Raubüberfall. Fahrplanansagen sind unverständliche Fanfaren aus dröhnenden Lautsprecheranlagen. Träger sammeln sich um die weißen Gesichter, zwanzig Hände greifen nach ihren Taschen. Ein dürrer Mann in roter Uniformjacke der MarathaRail nimmt Kijs Tasche. Schnell wie ein Messer schießt ihre Hand vor, um ihn festzuhalten. Sie neigt den Kopf, blickt ihm in die Augen.

»Ihr Name ist Dheeraj Tendulkar, und Sie sind ein verurteilter Dieb.«

Der falsche Träger zuckt zurück, als hätte ihn eine Schlange gebissen.

»Wir werden unsere Sachen selber tragen.« Thomas Lull nimmt Kij am Ellbogen und führt sie wie eine Braut durch das Gedränge aus Körpern und Gerüchen. Ihr Blick huscht im Strom der Leute von Gesicht zu Gesicht.

»Die Namen. All die Namen. Viel zu viele, um sie zu lesen.«

»Ich verstehe diese Götter-Sache immer noch nicht«, sagt er.

Die Rotjacken haben sich um den Gauner geschart. Laute Stimmen, ein Schrei.

Eine Stunde Wartezeit bis zur Abfahrt des Bharat Shatabdi. Thomas Lull findet Zuflucht in der Filiale einer globalen Cafeteria. Er zahlt westliche Preise für einen Pappbecher mit Holzrührer. In der Brust spürt er eine Beklemmung, die somatische Reaktion des Asthmatikers auf diese klaustrophobische, erbarmungslose Stadt unterhalb einer Stadt. Durch die Nase. Atme durch die Nase. Den Mund zum Sprechen.

»Das ist sehr schlechter Kaffee, findest du nicht auch?«, sagt Kij.

Thomas Lull trinkt ihn und sagt nichts. Er beobachtet das Kommen und Gehen der Züge und wie die Menschen auf dieser Etappe ihrer Pilgerfahrt herumlaufen. Unter ihnen ein Mann, der dorthin unterwegs ist, wohin ein Mann seines Alters und seiner Gesinnung niemals gehen sollte, zum Schauplatz eines dreckigen kleinen Wasserkriegs. Aber es ist ein Mysterium, eine Verlockung, es ist Wahnsinn und Waghalsigkeit, während man eigentlich nicht mehr zu empfinden erwartet als das Summen der universellen Mikrowellenhintergrundstrahlung im Knochenmark.

»Kij, zeig mir noch einmal das Foto. Es gibt etwas, das ich dir sagen muss.«

Aber sie ist gar nicht mehr da. Kij bewegt sich wie ein Geist durch die Menge. Menschen gehen ihr aus dem Weg und starren sie an. Thomas Lull wirft Bargeld auf den Tisch, setzt ihr nach, winkt ein paar Träger heran, die die Taschen nehmen sollen.

»Kij! Unser Zug ist da drüben!«

Sie geht weiter, ohne ihn zu hören. Sie ist die Madonna des Chhattrapati Shivaji Terminus. Eine Familie sitzt auf einem Dhuri unter einer Anzeigetafel und trinkt Tee aus Thermoskannen. Mutter, Vater, Großmutter, zwei jugendliche Mädchen. Kij geht auf sie zu, ohne Eile, unaufhaltsam. Einer nach dem anderen blicken sie auf, spüren, wie sich die Aufmerksamkeit des ganzen Bahnhofs auf sie richtet. Kij bleibt stehen. Thomas Lull bleibt stehen. Die Träger, die hinter ihm hertrotten, bleiben stehen. Thomas Lull spürt auf Quantenniveau wie jeder Zug, jeder Gepäckwagen und jede Rangierlok anhält, wie jeder Passagier, jeder Ingenieur und jeder Wachmann erstarrt, wie jedes Signal und jedes Zeichen und jede Anzeigetafel im Umspringen verharrt. Kij hockt sich vor die eingeschüchterte Familie.

»Sie wollen nach Ahmedabad fahren, aber ich muss Ihnen sagen, dass er nicht da sein wird, um Sie abzuholen. Er steckt in Schwierigkeiten. In großen Schwierigkeiten. Er wurde verhaftet. Er ist eines schwerwiegenden Vergehens angeklagt, Diebstahl eines Motorrads. Er wird in der Polizeiwache des Surendranagar District festgehalten, Nummer GBZ16652. Er braucht einen Anwalt. Azad und Söhne sind eine der erfolgreichsten Strafrechtskanzleien von Ahmedabad. Es gibt einen schnelleren Zug, mit dem Sie in fünf Minuten vom Bahnsteig 19 abfahren können. Dazu müssen Sie in Surat umsteigen. Wenn Sie sich beeilen, können Sie ihn noch erwischen. Schnell!«

Lull greift nach ihrem Arm. Kij dreht sich um. In ihren Augen sieht er Emotionen, die ihm Angst machen, aber er hat den Bann des Moments gebrochen. Die verängstigte Familie reagiert mit unterschiedlichen Arten panischer Hektik. Vater reckt die Brust, Mutter zieht den Kopf ein, Großmutter hebt lobpreisend die Hände, Töchter versuchen das Teegeschirr einzusammeln. Ein heißer, feuchter Fleck aus vergossenem Chai breitet sich auf dem Dhuri aus.

»Sie hat recht«, ruft Thomas Lull, während er Kij fortzerrt. Jetzt leistet sie keinen Widerstand mehr, wie jene, die er von den Strandpartys fortführt, die durch den Sand stolpern, die auf den schlechten Trips. »Sie hat immer recht. Wenn sie sagt, Sie sollten gehen, dann sollten Sie gehen.«

Der Chhattrapati Shivaji Terminus atmet aus und nimmt seinen kontinuierlichen niedrigschwelligen Schrei wieder auf.

»Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«, sagt Lull, während er mit Kij zum Bahnsteig 5 hetzt, wo der Raj Shatabdi von Mumbai nach Varanasi aufgerufen wurde, ein langer Krummsäbel in Grün und Silber, der in den Flutlichtern des Bahnhofs glänzt. »Was hast du diesen Leuten gesagt? Du hättest sonst was lostreten können.«

»Sie wollen ihren Sohn besuchen, aber er steckt in Schwierigkeiten«, sagt sie matt. Er glaubt, sie könnte jeden Augenblick zusammenbrechen.