»Hier entlang, Sir, hier entlang!« Die Träger führen sie durch die Menge. »Dieser Waggon, dieser Waggon!« Thomas Lull zahlt ihnen zu viel, damit sie Kij zu ihrem Platz bringen. Es ist ein reserviertes Zwei-Personen-Abteil, mit Beleuchtung, intim. Thomas Lull lehnt sich in den Lichtkegel. »Woher weißt du solche Sachen?«
Sie will ihn nicht ansehen, sie dreht den Kopf in die gepolsterte Rückenlehne. Ihr Gesicht ist aschfahl. Thomas Lull macht sich große Sorgen, dass sie einen weiteren Asthmaanfall bekommen könnte.
»Ich habe es gesehen, die Götter ...«
Er stürzt auf sie zu, nimmt ihr herzförmiges Gesicht in die Hände und dreht es, damit sie ihn ansieht.
»Lüg mich nicht an. Niemand kann so etwas sehen.«
Sie berührt seine Hände, und er spürt, wie sie sich von ihrem Gesicht lösen.
»Ich habe es dir erklärt. Ich sehe es wie einen Halo um die Menschen. Wer sie sind, wohin sie gehen, welchen Zug sie nehmen. Zum Beispiel diese Leute, die zu ihrem Sohn fahren wollten, nur dass er nicht für sie da sein würde. All das, und sie hätten nichts davon gewusst. Sie hätten im Bahnhof gewartet und gewartet, und Züge wären angekommen und abgefahren, und er wäre trotzdem nicht gekommen. Vielleicht wäre sein Vater zu seiner Adresse gegangen, aber dort hätte er nur erfahren, dass er an jenem Morgen zur Arbeit ging und sagte, er würde seine Familie vom Bahnhof abholen. Dann wären sie zur Polizei gegangen und hätten herausgefunden, dass man ihn verhaftet hat, weil er ein Motorrad gestohlen hat. Sie würden Kaution bezahlen müssen und nicht wissen, zu wem sie gehen sollten, um ihn herauszuholen.«
Thomas Lull sackt auf seinem Sitz zusammen. Er gibt sich geschlagen. Seine Wut und sein stumpfer Yankee-Rationalismus versagen angesichts der Worte dieses blassen Mädchens.
»Dieser verlorene Sohn, wie ist sein Name?«
»Sanjay.«
Automatische Türen schließen sich. Ein Pfeifen übertönt das Getöse des Bahnhofs.
»Hast du noch das Foto? Zeig es mir, das Foto, das du mir unten in den Backwaters gezeigt hast.«
Lautlos und sanft setzt sich der Zug in Bewegung. Bahnhofswallahs und Angehörige halten Schritt, um die letzte Gelegenheit für einen Verkauf oder einen Abschiedsgruß zu nutzen. Kij klappt den Palmer auf dem Tisch auf.
»Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt«, sagt Thomas Lull.
»Ich habe dich gefragt. Du hast gesagt: ›Irgendwelche Touristen. Wahrscheinlich haben sie ein Foto, das genauso aussieht.‹ Das war nicht die Wahrheit?«
Der elektrische Zug ruckelt über Weichen und wird mit jedem Meter schneller, als er in einen Tunnel eintaucht, gespenstisch erhellt von Entladungen der Oberleitungen.
»Es war eine Wahrheit. Sie waren wirklich Touristen. Das waren wir alle, aber ich kenne diese Leute. Schon seit Jahren. Wir sind gemeinsam durch Indien gereist, so gut kannten wir uns. Ihre Namen sind Jean-Yves und Anjali Trudeau. Sie beschäftigen sich mit der Theorie der Künstlichen Intelligenzen, an der Universität von Strasbourg. Er ist Franzose, sie Inderin. Gute Wissenschaftler. Als ich das letzte Mal von ihnen hörte, überlegten sie, an die University of Bharat umzuziehen — näher an die Sundarbans heran. Sie dachten, dort würde die bahnbrechende Forschung stattfinden, ungehindert durch die Hamilton-Gesetze und die Kaih-Lizenzbeschränkungen. Wie es aussieht, haben sie diesen Schritt getan, aber sie sind nicht deine wirklichen Eltern.«
»Warum nicht?«, fragt Kij.
»Aus zwei Gründen. Erstens, wie alt bist du? Achtzehn? Neunzehn? Sie hatten kein Kind, als ich sie vor vier Jahren kennenlernte. Aber der zweite Grund schlägt jeden Einwand. Anjali kam ohne Gebärmutter auf die Welt. Jean-Yves hat es mir gesagt. Sie konnte niemals Kinder haben, nicht einmal in vitro. Sie kann nicht deine biologische Mutter sein.«
Der Shatabdi bricht aus der Unterstadt hervor ins Licht. Eine gewaltige Ebene aus Gold fällt schräg durch das Fenster auf den kleinen Tisch. Der photochemische Smog segnet Mumbai mit Bollywood-Sonnenuntergängen. Der ewige braune Dunst lässt die Zikkurate und Wohnkomplexe so ätherisch erscheinen wie heilige Berge. Strommasten flackern vorbei. Thomas Lull beobachtet, wie ihre Schatten über Kijs Gesicht huschen, und er versucht, ihre Regungen zu entziffern, die Reaktionen in der blendenden Goldmaske. Sie neigt den Kopf. Sie schließt die Augen. Thomas Lull hört, wie sie Luft holt. Kij blickt wieder auf.
»Professor Lull, ich erlebe verschiedene starke und unangenehme Empfindungen. Ich möchte versuchen, sie zu beschreiben. Obwohl ich verhältnismäßig ruhig bin, spüre ich ein Schwindelgefühl, als würde ich fallen, nicht im physikalischen Sinne, sondern nach innen. Ich empfinde eine Übelkeit, die ich nur als Gefühl der Leere beschreiben kann. Alles kommt mir unwirklich vor, als wären diese gegenwärtigen Ereignisse nicht real, als würde ich das alles in meinem Bett im Hotel in Thekkady träumen. Ich spüre die Wirkung eines Schlages, jedoch ohne dass mir tatsächlich ein physischer Hieb versetzt wurde. Ich stelle mir vor, dass die physikalische Substanz dieser Welt dünn und zerbrechlich wie Glas ist und dass ich jeden Augenblick durchbrechen und ins Nichts stürzen könnte. Doch gleichzeitig stelle ich fest, dass mir tausend verschiedene Ideen durch den Kopf rauschen. Professor Lull, können Sie mir diese gegensätzlichen Empfindungen erklären?«
Die rasche Sonne Indiens geht jetzt unter und taucht Kijs Gesicht in einen roten Schein, wie das eines Anhängers von Kali. Der schnelle Zug rauscht durch die weitläufigen Basti-Viertel von Mumbai.
»Das empfindet jeder, wenn das eigene Leben zu einer Ansammlung von Lügen wird«, sagt Thomas Lull. »Es ist Wut und Enttäuschung, es ist Verwirrung und Verlust und Furcht und Schmerz, aber all das sind nur Namen. Wir haben keine Sprache für Emotionen außer der Emotion selbst.«
»Ich spüre, dass sich Tränen in meinen Augen sammeln. Das ist äußerst überraschend.« Dann bricht Kijs Stimme, und Thomas Lull hilft ihr in den Waschraum, fort von den Blicken der anderen Passagiere, damit sich die fremdartigen Emotionen ungehindert ausleben können. Zurück auf seinem Sitz ruft er einen Steward und bestellt eine Flasche Wasser. Er gießt ein Glas ein, fügt ein starkes Beruhigungsmittel aus seiner kleinen, aber wirksamen Reiseapotheke hinzu und staunt über die einfache Komplexität der Wellenmuster, die der stählerne Rhythmus der Räder auf die Wasseroberfläche überträgt. Als Kij zurückkehrt, schiebt er ihr das zitternde Glas über den Tisch zu, bevor sie mit irgendwelchen weiteren Fragen herausplatzen kann. Er hat selber genug davon.
»Austrinken.«
Es dauert nicht lange, bis das Beruhigungsmittel wirkt. Kij blinzelt ihn wie eine betrunkene Eule an und rollt sich katzengleich so bequem wie möglich auf dem Sitz zusammen. Dann ist sie weggetreten. Thomas Lulls Hand nähert sich ihrer Tilaka und hält dann inne. Es wäre ein ungeheuerlicher Übergriff, genauso schlimm, als hätte er seine Hand unter den Bund ihrer lockeren grauen Hose geschoben. Und das ist ein Gedanke, den er bis zu dieser Sekunde niemals in Worte gefasst hat.
Seltsames Mädchen, zusammengekauert wie eine schlaksige Zehnjährige auf ihrem Sitz. Er hat ihr Wahrheiten gesagt, die jedes Herz verängstigen würden, und sie hat sie wie philosophische Thesen behandelt. Als wären sie ihr völlig neu. Fremdartig. Warum hat er es ihr gesagt? Um ihre Illusion zu zerstören, oder weil er wusste, wie sie reagieren würde? Weil er ihren Gesichtsausdruck sehen wollte, während sie sich bemühte, die Empfindungen ihres Körpers zu verstehen? Er kennt die furchtsame Verblüffung von den Gesichtern der Beachclub-Kids, wenn sie von den Emotionen umgehauen werden, die von der Proteinprozessor-Matrix der Cyberabads zusammengebraut werden. Emotionen, für die ihre Körper weder einen Bedarf noch eine Entsprechung haben, die sie erfahren, aber nicht verstehen können. Fremdartige Emotionen.